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Abschied von Großmutter

  • Autorenbild: Sylvie Bantle
    Sylvie Bantle
  • 5. März
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 11. März


»…ach Sepia, jetzt will ich nur noch sterben!«

Weißt du noch Großmutter, als du so mit mir sprachst? Drei Wochen vor Deinem

Tod. Unser letztes Gespräch als Lebende, Menschen… unsere letzte Begegnung,

berührt zum allerletzten Mal, gemeinsam geatmet…

Sepia, gerade zweiundzwanzig, frisch verliebt zum zweiten Mal, ging mit ihren

Füßen nicht am Boden, nein, sie schien zu schweben, jeder Schritt ein Tanzen,

irgendwo, bloß nicht hier. Es war Sommer. Die Großeltern aus der Kleinstadt

verbrachten einen sonnigen Monat in der großen Stadt auf Besuch bei Sohn und

Schwiegertochter. Sie waren still geworden, beide alt und p egebedürftig. Der

Großvater verkalkt und gedächtnislos, die Großmutter voller Erinnerung, doch

überdrüssig des körperlichen Schwindens. Man möchte meinen, der Großvater sei

am glücklichsten gewesen. Hat nicht die Zeit sein Gedächtnis leer gefegt, Gutes

samt Schlechtes einfach eliminiert? Was blieb zurück? Kein glückliches

neugeborenes Kind, nicht ein bisschen. Er war schon immer ein Tyrann gewesen,

das ist von ihm übrig geblieben, jetzt mit sich selbst um ein Vielfaches multipliziert.

Sieht so die Zielgerade am Ende des Lebens aus? Sepia weiß darauf keine

Antwort. Großmutter und Großvater waren auf ihren Atomkern geschrumpft! Vor

ihrer Abreise heim in die Kleinstadt, hat Sepia noch einmal bei den Eltern

vorbeigeschaut mit ihrem neuen Freund. Da nahm die Großmutter sie leise beiseite

und führte sie ins elterliche Schlafgemach, der ungestörteste Ort der Wohnung. Da

saßen sie nebeneinander auf dem Bett, die Tür geschlossen. Schweigen, still

beieinander sitzen, die Hände halten sich.

…wie schon einmal, Großmutter weißt du noch? Ich war noch ein Kind! Du hast

mich getröstet, mit mir geweint - Dein Sohn, der mein Vater ist, hatte mich

geschlagen. Weil Du weintest, musste ich noch mehr weinen, aber es waren

glückliche Tränen, Dankbarkeitsschmerz. Du warst die einzige, niemand sonst in

der Familie ist so mutig gewesen, mich zu trösten… du die einzige, keiner sonst,

nicht einmal meine leibliche Mutter…

Die Szene war diesmal ähnlich, das Sitzen auf dem Bett, das stille Halten der

Hände, die geschlossene Tür - der Grund jedoch ein ganz anderer:

Abschied. Auf ewig.

Es war zu viel für ein junges verliebtes Mädchen.


…ich wußte nichts… Nichts! Ach, Großmutter hörst du mich? Wie jung und

ängstlich war ich…

Nach schweigendem Beisammensitzen blickte die Großmutter ihre Enkelin an

und sagte leise:

»…ach Sepia, jetzt will ich nur noch sterben!«

Sepia viel zu jung für solches Wortgewicht, erwiderte mit ringendem Atem:

»Ach Oma, sprich so nicht…«

…weißt du noch, Großmutter? Ich war zu jung, um zu begreifen, diesmal Dir als

Starke die Hand zu halten. Ich habe sie gehalten Deine Hand, ohnmächtig, voller

Angst – unartikulierte, blinde Angst. Niemals hätte ich das Wort ausgesprochen,

niemals zu denken gewagt.

Und trotzdem, manches geschieht eben viel zu früh – sie waren wichtig, deine

ausgesprochenen Gedanken. Es

el dir schwer, wie schwer, das kann ich heute

ahnen. Nur mir hast Du es gesagt, im Geheimen. Das ehrt mich sehr… Dein Erbe

an mich? Seither weine ich, weil ich jemanden wie Dich vermisse. Die Familie ist

ausgestorben von solchen Wesen, ich bin die letzte, einzige, die übrig geblieben ist.

Ich bin keine Familie, wie kann ein Einzelner eine Familie sein! Ich habe eine neue

Familie gegründet, bin Mitglied einer großen freundlichen Sippe, aber keines dieser

Wesen ist blutsverwandt mit mir.

Ich danke dir… Großmutter hörst du mich? Manchmal kommst du in meine

Träume, Du bist Heilerin, Seelenverwandte, Große Mutter… Nun bin ich kein Kind

mehr, keine junge Frau, mein Leben ist fast aufgezehrt. Deine letzten Worte von

einst, so ehrlich schmerzend, haben sich zu Gold verwandelt, und die

Verbundenheit zwischen dir und mir für alle Zeiten ins Sichtbare geprägt, hat mein

Vertrauen gemächtigt – Vertrauen in menschliche Verbindlichkeit.

Jetzt bin ich es, die zu dir steht, mutig…

Bald werde ich zu meinem Atomkern schrumpfen. Was wird übrig bleiben von

mir? Ich wünsche, Du bist es.


München, 2004/2005



 

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