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Alles Theater… I

  • Autorenbild: Sylvie Bantle
    Sylvie Bantle
  • 5. März
  • 9 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 11. März


Das Stück ist aus. Voller Begeisterung tobt der Applaus. Das

Publikum wollte nicht aufhören, den Schauspielern erging es

wohl ebenso. Alle wollten weitermachen in dieser lustigen Mas-

kerade…


…wir sind nur Mißgeburten, die Mißgeburten unserer Eltern, die

die Mißgeburten ihrer Eltern sind…

So führt die Spur in die Vergangenheit, zurück zu all den Ah-

nen, die uns hervorgebracht haben, uns die modernen Mißge-

burten!

Wie kann ich über Liebe sprechen? Wenn ich sie bei meinen

Ahnen nie sah. Ich kann nur über die Krankheit sprechen, die

die Mißgeborenen ‘Liebe‘ nennen. Über etwas anderes weiß ich

nicht Bescheid. Auch habe ich noch niemanden kennengelernt,

der sie wirklich gesehen hat, die Liebe. ‘Wirklich‘ deshalb, weil

viele, die ich bisher traf, meinten, die Liebe zu kennen. Sie sa-

gen, sie lieben ihren Mann oder ihre Frau, ihre Kinder, die Mut-

ter, den Vater, die beste Freundin, nein, auch alle Freunde, alle

Menschen… Doch dann erfahre ich im Laufe der Zeit recht

merkwürdige Dinge über jene selbsternannten Liebenden. Sie

betrügen ihren Mann oder sind unehrlich zu ihrer Frau. Sie sind

genervt von den Kindern. Und auch von der Mutter, die viel zu

oft anruft und viel zu viel wissen will. Vom Vater hören und

sehen sie nichts, und das ist ihnen nur recht. Er döst vor sich

hin, ist unbrauchbar geworden, und wird später von einem

schicken Begräbnisinstitut entsorgt. Die Mutter stellt viele

Tränen zur Schau, so wie man das von einer Ehefrau erwartet,

aber unter ihrer Fettschicht schlägt ihr Herz Freudensprünge,

weil sie endlich frei ist! Oder es geht so, daß man sich an alles

so gewöhnt hat und in Wirklichkeit um die verlorene Gewohn-

heit trauert… Jedenfalls ist das, was man tut und meint zu

fühlen, nur selten das, was die Seele fühlt und täte.

Und was ist mit der Liebe für den besten Freund? Wenn es ei-

ner wagen sollte, Verbindlichkeit zu fordern, kracht es laut.

Meist geht die Freundschaft genau da in die Brüche, wo sich


Freundschaft beweisen will. Und die einst engsten Freunde kla-

gen sich gegenseitig an und sind böse aufeinander.

Warum all die Freunde? Sind sie nicht Schach guren, die im

Terminkalender anzeigen, daß man nicht einsam ist? Daß man

gefragt ist…

Am liebsten redet man bei ein zwei drei Bier oder Wein oder

Prosecco davon, was man gern täte und doch nie tut, was ja

auch keiner von einem erwartet, daß man es tut. Denn wer will

sich schon mit Verbindlichkeit abmühen? Tun, was die Seele

wünscht? So was weiß heut keiner mehr! Heute weiß man, wie

man kriegt, was man will. Mit Schmeicheleien macht man das

und damit den anderen weich. Dann ist er bereit, hier und da

einen Gefallen zu tun und hoffentlich zurückzuschmeicheln…

Was für eine seltsame Liebe soll das sein? Sollte man dafür

nicht ein passenderes Wort suchen oder gleich ein neues er n-

den?

Aus meiner Erfahrung, wenn ich auch etwas sagen darf, so gibt

es in dieser Welt keine Liebe, und wenn einer wirklich liebt,

dann nur für Bruchteile von Sekunden.

Die Liebe hat kaum einer gesehen. Und wenn es doch einer

behauptet? Glaubt ihm nicht! Auch er ist nur eine Mißgeburt

seiner Ahnen…


DER THEATERBESUCH

…von Gebildeten und Eingebildeten

Heute gehen wir ins Residenztheater! Uih, wie schön! Wir sind

aber keine Abonnement-Theatergänger, die im Zweiwochentakt ihre

Bildung p egen, nein, nein, in dieser Beziehung sind wir eher ganz

normale Banausen.

Wir, das sind drei Personen, ein alter Freund und mein Mann, der

Künstler aus Indien. Seit geraumer Zeit hilft er mit, dort die Kulissen

anzumalen. Das Stück heißt ‘Zur schönen Aussicht‘ von Ödön Hor-

warth und ist in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts geschrie-

ben worden. Wir haben sogar Premierenkarten bekommen, weil aber

alles bereits ausgebucht war, mußten wir mit der zweiten Reihe auf

dem linken Balkon Vorlieb nehmen. Man sah von dort aus nur die

Hälfte der Bühne, aber nur, wenn man sich vorbeugte; eigentlich

eine Frechheit vom Theater, überhaupt solche Plätze zu installieren,

geschweige denn, dafür auch noch etwas zu verlangen.

Mein Mann, der geholfen hat, die Kulissen anzumalen, erklärt

uns dann, was sich alles auf der linken Bühnenseite be ndet, die wir

ja nicht sehen können.

Dennoch sitzen wichtige Leute hier. So hat es immerhin den An-

schein. Jedenfalls verhalten sie sich demnach. Vielleicht sind es auch

ausrangierte Schauspieler? Oder frustrierte Abonnementgänger…?

Warum eigentlich so gemein? Vielleicht sind es Kollegen? Nein,

dann hätten sie doch bestimmt bessere Plätze bekommen!

Zehn Minuten vor Beginn ist fast die ganze erste Balkonreihe vor

uns frei, bis auf eine ältere Dame mit kräftigem Körperbau und glatt

zurückgestecktem silbergrauem Haar. Es ist nichts Verschnörkeltes

an ihr, was mir den Eindruck gibt, daß sie eine Intellektuelle ist. Viel-

leicht ist sie eine Schriftstellerin wie ich oder eine Theaterkritikerin?

Sie ist allein, also muß sie sehr an diesem Stück interessiert sein,

denn sie sieht keineswegs nach einem einsamem Mütterchen aus. Sie


sitzt dort in ihrem legeren grauen Zweiteiler, in dem auch die Di-

cken schick aussehen. Eine junge schlanke Dame kommt, hat zwei

Plätze weiter ihren Sitz. Etwas umständlich richtet sie sich dort ein,

zieht ihre Jacke aus, legt sie über die Balustrade, sitzt noch nicht

richtig, ihre Handtasche steht am Boden, sie sucht sie, als konnte sie

in den wenigen Sekunden vergessen, wo sie sie hingestellt hat.

Die silbergraue Dame schaut ihr ein wenig skeptisch von links zu

und mit einem Fingerzeig auf die Jacke auf der Balustrade sagt sie

dann:

»Sie wissen, daß Sie das nicht dürfen!«

Äh, wie bitte, was? Haben Sie mit mir gesprochen?

Die silbergraue Dame muß ihren Satz wiederholen und von der

jungen Schlanken erfahren, daß sie das natürlich weiß, aber nur

noch nicht fertig ist mit dem Einrichten. Später nimmt sie dann die

Jacke von der Balustrade.

Das Theater hat sich nun ziemlich gefüllt, nur gegenüber auf dem

rechten Balkon ist die erste Reihe leer wie auf der linken, als müsse

die Symmetrie gewahrt werden. Neben uns sind auch noch zwei

Plätze frei. Aber nicht mehr lange, ein ungleiches Paar schlängelt

sich gerade heran, die ganze Reihe steht Spalier. Der schlanke Mann

geht voraus, er ist von jenem Typus, dessen Alter nicht einschätzbar

ist, zum Teil liegt das bestimmt an seinem entstellten Gesicht, das

von einer Verletzung oder einem Gehirnschlag herrühren mag. Sie,

mit den Pfunden des mittleren Alters, die sie mit einem weiten, viel

zu langen schwarzen Rock und einem schwarzen, viel zu weiten

Oberteil zu kaschieren versucht hat und fülliger aussehen läßt als

die silbergraue Dame, hat einen rötlichen Lockenschopf. Das und

was dann geschieht, verrät auf Anhieb, von welchem Sternzeichen

sie regiert wird. Indessen ihr Mann, vielleicht ist es auch ihr Vater?

nein, dann eher ein Freund oder Onkel! indessen also ihr Freund-

Onkel-Mann brav an uns vorbeizieht, um seinen Platz im hintersten

Eckchen zu erreichen, trifft sie, die Grand Löwin, etwa in der Mitte

der Reihe ein anderes Pärchen, das sie kennt und lauthals begrüßt

und mit dem sie alsdann ein Schwätzchen beginnt. Die ganze Reihe

steht noch, weil es offensichtlich ist, daß sie ja auch noch vorbei

muß, setzt sich aber dann peu à peu wieder hin, weil nichts derglei-


chen geschieht. Grand Löwin unterhält sich größzügig gestikulie-

rend mit dem Pärchen, das auch steht, weil ja sonst kein Platz ist.

Doch kaum hat sich der letzte der Reihe unschlüssig hingesetzt, be-

schließt Madame Wichtig, nun doch ihren Platz aufzusuchen. Der

Beschluß veranlaßt die ganze Reihe erneut auf- und Spalier zu ste-

hen, bis sich Madame großzügig gestikulierend von dem Pärchen

verabschiedet hat und an den Stehenden wie eine Göttin vorbei a-

niert. Weder attraktiv noch charismatisch ist sie, was hier noch am

ehesten zutrifft: eingebildet und arrogant!

Endlich sitzt sie, die Reihe darf sich auch wieder setzen, hat nun

nichts mehr zu befürchten, weil nun alles besetzt ist. Aber sie sitzt

nicht lange. Nachdem sie mit ihrem Onkel-Freund-Mann eingehend

genuschelt hat, entsteht erneute Unruhe. Beide erheben sich und be-

raten mit lauter Stimme, ob es zu wagen wäre, die Plätze der ersten

Balkonreihe einzunehmen, es war ja bereits wenige Minuten vor Be-

ginn.

»Aach, da kommt bestimmt keiner mehr!« sagt Madame Wichtig.

Als Grand Löwin genießt sie es geradezu, wenn sie sich in den Mit-

telpunkt bringen kann, da ist ihr jedes Mittel recht, ja der Zweck hei-

ligt die Mittel. Weil sie nicht einfach über die Stuhlreihe drüberklet-

tern können, müssen sie an der silbergrauen Dame vor ihnen vorbei,

die sich daher jetzt auch zu Wort meldet:

»Was ist jetzt? Wollen Sie oder nicht?« kam es wie aus der Pistole

geschossen und die Munition war unüberhörbar scharf. Und mit

Professorinnenbestimmtheit fügte sie hinzu:

»Nachher stehe ich nicht mehr auf, Sie werden mich doch dann

nicht mehr stören wollen!«

Wow! Das ist garantiert eine Theaterwissenschaftlerin! Sie nimmt

es ganz genau und will jedes Wort von dem Stück mitkriegen! Man

lernt halt nie aus: Wenn das Theaterstück begonnen hat, darf man

sich nicht mehr stören lassen! Sofern man sich einbildet, ein gebilde-

ter Mensch zu sein!

Wir wären da bestimmt nicht so zimperlich gewesen, aber diese

Grand Madame Löwin hat sich schon verdammt wichtig. Da hat sie

den Entschluß gefaßt. Ihren verwirrten Onkel-Freund-Mann im


Schlepptau zwängt sie sich um den letzten Sitz herum, an der silber-

grauen Dame vorbei…

Ach, das ist ja zu blöd. Ob es der jungen Schlanken etwas ausma-

chen würde, einen Sitz weiterzurutschen? Natürlich nicht! Sie muß

nur ihre Jacke feinsäuberlich und ihre Handtasche…

Die große Räumerei ist in vollem Gange. Die junge Schlanke hat

sich einen Sitz weitergesetzt samt zusammengefalteter Jacke und der

Handtasche. Die silbergraue Dame sitzt längst wieder und blickt

erwartungsvoll auf den geschlossenen Vorhang. Das ungleiche Pär-

chen will sich gerade niederlassen…

Als just in diesem Moment eine Handvoll Gäste hereinströmt

und kurz darauf noch einmal ein paar. Da alles besetzt ist hier oben,

auch auf der gegenüberliegenden Seite ist nun die erste Balkonreihe

voll, können also nur die Sitze vor uns gemeint sein. Das ungleiche

Pärchen in Hinsetzpose eingefroren, sträubt sich zu glauben, was es

sieht. Vielleicht bleiben ja doch noch zwei Plätze frei?! Aber die Gäs-

te kommen näher, man gewinnt mehr Überblick, eins, zwei, drei …

vier, fünf, sechs… Das ist aber wirklich zu blöd!

Also alles retour…

Für uns ist das ein nettes Vorspiel, möglicherweise wären wir so-

gar ungeduldig geworden?

Die silbergraue Dame steht zum zweiten Mal auf, um das Noma-

denpärchen vorbeizulassen, und etwas an ihr wirkt nun bereitwilli-

ger. Niemand bemerkt das, nur meine seismographischen Emp-

fangsantennen melden mir die kurzzeitige Erweichung ihrer stren-

gen Haltung. Das rührt von dem schlechten Gewissen! pulsieren die

Signale durch meine Gedanken, weil sie zuvor allzu sehr Druck ge-

macht hat nach dem Motto: Jetzt oder nie!

Nein, es muss die Genugtuung sein! Schadenfreude ist ein

Glückstimulant.

Gerade noch schafft es die Löwen-Madame Wichtig mit ihrem

Onkel-Freund-Mann zurück auf ihren angestammten Sitzplatz ne-

ben mir, da zieht auch schon der Vorhang nach oben und das richti-

ge Stück beginnt.

Als der Vorhang zum ersten Mal fällt, nutze ich die kurze Zeit,

um mit meinem Mann ein paar Flüsterworte zu wechseln. Als der


Vorhang wieder hochgezogen wird, beende ich gerade meinen Flüs-

tersatz. Da zischt mich die Madame Wichtig von links nebenan mit

schärfster Munition an:

»Können Sie mal endlich still sein!!!«

Wow! Was für ein Gift. Da ist nicht nur Löwe, nein, sondern auch

eine gewaltige Portion Skorpion im Spiel. Ich bin mit dieser Deu-

tungsfrage so sehr beschäftigt, daß ich vergesse zu reagieren, denn

ich hätte ja zum Beispiel laut losprusten können oder ‘Eingebildete

BSE-Kuh‘ zu ihr sagen können. Aber als ich wieder zu mir kam, war

es dazu zu spät.

Dann ereignet sich etwas Ungehöriges… Ich hätte mir so etwas

niemals ausdenken können - das ist das schöne an wahren Geschich-

ten. Nach insgesamt fünfzehn Minuten, vielleicht sind auch zwanzig

vergangen, aber bestimmt nicht mehr, da steht die silbergraue Dame

vor uns auf, mitten im Stück! läßt die gesamte Reihe aufstehen, da-

mit sie sich mit ihrem gewaltigen Metzgerinnen-Umfang durch- und

Richtung Ausgang quetschen kann. Warum ist sie nicht vorhin ge-

gangen, als der Vorhang für einen Moment el? Nein, sie geht mitten

im Stück! Eine ganze Reihe muß aufstehen, mindestens zwanzig

Personen! Nur wegen ihr!

Ich bin so baff, daß ich mich für die nächste halbe Stunde nicht

mehr auf die Vorstellung konzentrieren kann. Mit welcher Be-

stimmtheit hatte sie zuvor gesprochen: »…Nachher stehe ich nicht

mehr auf, Sie werden mich doch dann nicht mehr stören wollen!«

Weiß sie denn selbst gar nicht, was sie sagt? Wer kann schon so

blind und taub sein? Oder ist sie etwa auch eine Madame Wichtig,

haben heute die Löwen Theatertag? Wahrscheinlich schreibt sie für

die Montagsausgabe die Kritik. Was für eine traurige Erkenntnis,

aber ich kenne einige von den Pappenheimern der Kritikschreiber,

auch aus der Musikszene. Die kommen erst, wenn das Konzert fast

zu Ende ist, aber das geht ja nicht im Theater, wo man am Anfang da

sein muß, darauf legen die eingebildeten Gebildeten Wert. Wann

man dann wieder geht, spielt keine Rolle mehr! Als der Vorhang

noch zweimal fällt, sehe ich, daß einige Sitze an anderen Stellen auch

frei geworden sind.


Und als das Stück beendet ist und es allmählich langweilig wird,

die Schauspieler beim Verbeugen zu beklatschen, verebbt mit einem

Mal der Applaus und die gesammelte Masse erhebt sich und will

jetzt raus. Und zwar alle auf einmal.

Unser Freund sagt:

»Na, haben wir nun etwas gelernt?« und meint damit das Thea-

terstück.

Und ich antworte mit recht lauter Stimme, damit es vor allem die

Madame Wichtig mit ihrem Onkel-Freund-Mann neben mir hören

kann:

»Oh, ich habe eine nette Geschichte bekommen!« Und mit einem

Wink nach links füge ich hinzu:

»Über diese Ecke hier!«

Ich verpacke meine Abfälligkeit in amüsiertes Lachen und tue so,

als existiere Madame Wichtig mit ihrem Onkel-Freund-Mann über-

haupt nicht - das ist nämlich die allerschlimmste Strafe für die Lö-

wen: Ignoranz! Und weil unser Freund ein astrologischer Kleinex-

perte ist, versteht er sofort, was ich meine. Und so vertreiben wir uns

die Zeit des Anstehens bis zum Ende der Reihe mit heiterem Fach-

simpeln über die Plumpheiten und egomanischen Anfälligkeiten

gewisser Löwesorten und sind tunlichst darauf bedacht, dies so zu

tun, daß Betreffende etwas hören kann.

Als ich mich einmal umblicke, um die Reaktion seismographisch

abzulesen, wird mir klar, daß Betreffende allem Anschein nach

nichts kapiert von dem Stück, das wir hier gerade life aufführen -

weil sie uns gar nicht beachtet. Wir werden einfach ignoriert! Natür-

lich, wir sind ja auch keine Löwen…



 


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