Big Chapati! Small Chapati! Schweinefutter …
- Sylvie Bantle
- 11. März
- 7 Min. Lesezeit

Ich war schon monatelang in Indien, sie kam spontan angereist, einem
Liebeskummer zu entfliehen. In Bombay am Flughafen nahm ich sie in Emp-
fang und gleich zur Begrüßung gingen die Possen los! Einen bleichen Ox-
ford-Studenten im Schlepptau flatterte sie mir am ‘Arrival‘ entgegen. Beim
Umsteigen in Kairo hatten sie sich kennengelernt und, die Götter wissen
warum, Feuer gefangen.
Als Indien-Neulinge hatten sie gewohnheitsmäßig mit den typischen
Eingewöhnungsschwierigkeiten zu kämpfen. Hinsichtlich der Tischmanieren
befanden sie einhellig, die Inder seien unkultiviert wie Kannibalen. Sie
weigerten sich, mit den Händen zu essen, und verlangten partout nach dem
passenden Besteck!
»Fork and knife, please!«
Das klang in diesem Schmuddel-Ambiente wirklich äußerst komisch. Der
angesprochene ‘Waiter‘ hielt elektrisiert inne. Solcher Wortschatz war ihm
fremd. Mit den Händen malten wir Gabel und Messer in die Luft, und das
ganze Lokal gaffte verblüfft. Dann von plötzlicher Eingebung getroffen, riss
der Ober die Augen auf und wackelte aufgeregt mit dem Kopf wie in einem
Stummfilm. Er sauste zur Küche hinter der verbotenen Tür und kehrte freud-
estrahlend mit einem antiken Stück verbeulten Blechlöffels zurück, den er
noch eben schnell an seinem Lungi sauber wischte, um ihn Big-Chapati feier-
lich zu überreichen.
Seit dem ersten indischen Mahl hatten wir neue Namen: Big Chapati und
Small Chapati. Die folgenden Wochen wurden in Oxford-Englisch gelacht.
Simon wollte Kriegsberichterstatter werden und steckte voller Pfadfinder-Ide-
ale. Gerade hatte er sein Studium in Oxford begonnen. Die erste schwere In-
dienkrise ereilte ihn bereits beim Besuch eines fahrenden indischen Zoos, die
zweite wegen der ‘village-toilets‘ in Goa.
Umsteigen in Mapusa und dort der unverzichtbare Besuch in der leg-
endären ‘Hanuman Ice-Bar‘. Beherrschungslos tranken wir uns durch die
Menucard und hockten später mit blubbernden Milkshake-Mägen im überfüll-
ten Bus Richtung Meer, eingequetscht zwischen schnatternden Hühnern,
Truthähnen und Marktfrauen. Reifenquietschender Halt in jedem Dorf. Und
überall Bewohner außer Rand und Band, die kreischend über den Bus herfie-
len und auf die Seitenwände eindroschen, bis er motorenheulend wieder los-
fuhr.
»Sind die Inder alle übergeschnappt?«
Big Chapati empört über das Getöse, steckte neugierig den Kopf aus dem
Fenster. Genau in diesem Augenblick schoss eine Riesenladung blaues Pul-
ver hoch. Erschrocken zog sie den Kopf zurück – ein blaues Gespenst blickte
mich an, Augen und Mund aufgesperrt im Schreck. Jedes Fenster wurde zur
Zielscheibe, in wilder Reihenfolge flog buntes Pulver herein. Die Insassen
juchzten und schrieen, warfen das Aufgefangene zurück, und noch dickere
Pulverwolken kamen retour.
Als der Bus weiterfuhr, fingen sie an, sich gegenseitig mit Farbpulver zu
beschmeißen, lachten und grölten und freuten sich des Lebens – Kuckuck-
snest auf indisch! Bei jedem Halt geschah dasselbe. Durchgedrehte Dorfbe-
wohner von außerirdischer Hautfarbe in grün, blau, rot, violett, pink stürzten
mit barbarischem Gelärme auf den Klapperbus, begruben ihn unter bunten
Pulverkaskaden und trommelten mit ihren Fäusten ekstatische Rhythmen und
neue Beulen in die Flanken. Ein indischer Bus muss das aushalten, sonst ist
er eben untauglich für dieses Land – was ebenso für die Menschen gilt.
Keiner der farbenfroh eingestäubten Passagiere dieser verrückten Fahrt
war imstande, uns vernünftig zu erklären, was es mit dem Spektakel auf sich
hatte. Andauernd deuteten sie auf das Pulver und kicherten, »Powder! …
Powder only!« – Nur Pulver! Als hätten wir das nicht selbst kapiert.
Kunterbunt gepudert erreichten wir Arambol. Es war bereits dunkel. Ein
Fischerjunge empfing uns freudestrahlend, als habe er einzig auf uns
gewartet, »Room? Nice room!«
Bei seinem Haus angekommen, führte er uns mit einer qualmenden Kerus-
infunzel in ein karges Lehmhüttenkämmerchen mit minimalistischer Einrich-
tung: Es war leer! Bis auf einen morschen Palmstamm, der in der Mitte des
Raumes lag.
»Where are the beds?« fragten Big Chapati und Simon im Chor.
Ein grinsender Greis im Lendenschurz trat ein und ließ drei Bastmatten zu
unseren Füßen gleiten. In den farbverschmierten Gesichtern meiner Reise-
begleiter pures Unverständnis, »And toilet? … bathroom? … shower?» – man
möge ihr doch zuerst Bad und Toilette zeigen, beharrte Big Chapati.
Unterkünfte dieser Kategorie hatte ich zur Genüge trainiert. Für den Gang
zur nicht vorhandenen Toilette liegt eigens zu diesem Zweck ein dicker
Holzknüppel griffbereit vor der Hütte. Damit geht man auf die Suche nach
einem stillen Örtchen – was gerade in Indien bisweilen ein schwieriges Unter-
fangen darstellt. Allzu gern lässt man sich angesichts von Strand und Pal-
mendschungelidylle zu romantischen Ideen hinreißen. In Wirklichkeit ist man
praktisch nie allein.
Die erfolgreiche Ausführung des dringlichen Vorhabens in freier Natur
hängt daher vom Geschick ab, sich möglichst unauffällig zu verhalten und
beim Herumspazieren mit dem Holzknüppel keinerlei Absicht preiszugeben.
Ist dann ein Plätzchen für den geheimen Plan entdeckt, wird es kritisch. Von
da an zählt Flinkheit, Täuschungsmanöver sind nutzlos. Mit der einen Hand
die Kleidung, mit der anderen den Stock fest im Griff blitzschnell in Hockposi-
tion. Sputen! Der Geruch ist unvermeidlich und verräterisch. Schon nach
wenigen Sekunden grunzt es im Rücken – die Schweine sind im Anmarsch!
Da man so schnell gar nicht kann, ist es folglich unmöglich, aufzustehen und
zu fliehen. Indienprofis sind vorbereitet: die Keule schwingen und ausholen!
Kondition ist erforderlich, in Eile das Geschäft verrichten und gleichzeitig um
sich schlagen. Keine Mama hat einem das beigebracht.
Trotz Anstrengung und Ungemütlichkeit stellt sich bald Verständnis ein, in-
dische Schweine sind die Putzkolonne der Arme-Leute-Toiletten. Heißhungrig
stürzen sie sich auf alles, was stinkt. Am liebsten würden sie einem noch den
Hintern abschlecken. Es hilft reichlich wenig, als Klügerer nachzugeben und
ein wenig zur Seite zu rücken, um den schlabbernden Mäulern Platz zu
machen. Das sind gierige, schnellfressende Schweine, haben sofort alles
aufgemampft. Unersättlich verlangt es sie nach mehr, und zwar sofort! Der
Knüppel ist pausenlos im Einsatz, sonst wird man buchstäblich über den
Haufen gerannt. Will man zu einem ertragreichen Ende kommen, muss man
sich eben steinzeitlichen Manieren bedienen. Und dann? Man gewöhnt sich
an die Prozedur und freundet sich mit dem komischen Abenteuer an – hinter-
her hat man ausgiebig zu lachen.
Unsere erste harte Nacht in Arambol galt es tapfer durchzustehen. An uns
klebte mehrschichtig der bunte Brei. Das Gesicht, der ganze Körper und die
Kleidung vollgeschmiert mit Farbpulver, mussten wir ungewaschen zu ‘Bett‘
gehen. Weder Strom- noch Wasseranschluss gab es hier. Der Brunnen
stand, weiß Gott wo, draußen im Dunkeln und ein Bad oder eine Toilette ex-
istierte nicht.
Gleich am nächsten Morgen begann ich mit entsprechendem Aufklärung-
sunterricht. Es kam nämlich vor, dass die Schweine-Geschichte von ah-
nungslosen Neuankömmlingen nicht gebührend ernst genommen wird.
Später rannten diese dann hysterisch umher, völlig fassungslos, weil das mit
den Schweinen tatsächlich stimmte. Deshalb wollte ich besonders gründlich
sein.
Die Familie, bei der wir wohnten, hatte in fortschrittlichem Ansinnen etwa
fünfzehn Meter hinter dem Haus drei aufrecht stehende Palmwedel als ‘Toilet‘
in die Erde gerammt – ein in jeder Hinsicht ungenügender Schutz gegen den
Überfall hungriger Schweine und neugierige Blicke. Es war also ratsam,
lieber gleich in der Pampas das Glück zu wagen.
Die kleinlaute Verfassung unseres englischen Kriegsberichterstatters bere-
itete mir ein wenig Sorge. In Gedanken sah ich ihn bereits mit der Keule in
einem Busch durchdrehen.
»Am besten immer auf einen Fluchtweg achten,« referierte ich, »niemals
zu tief irgendwo hineinkriechen …«
Beiläufig nahm er meine Instruktionen zur Kenntnis, behauptete gar, das
sei für ihn überhaupt kein Problem. Auch Big Chapati sah der Sache heroisch
locker entgegen, und den Holzknüppel in der Luft schwenkend, marschierte
sie als erste mutig los, »Ich muss mal – zu den Schweinen!«
Beunruhigend lang blieb sie weg. Bis sie außer Atem von ihrem Ausflug
zurückkehrte. Im Gesicht ständig wechselnd Grimassen aus Schrecken und
Kichern, schilderte sie ihr erstes Erlebnis mit der indischen Freiluft-Toilette.
Ich lachte Tränen, indessen Simon in lethargischer Pose auf der Schwelle
kauernd, ernst und stumm vor sich hin glotzte.
Fortan hatten wir zwei Frauen unseren täglichen Schweine-Kampf-Spaß,
Simon blieb gnadenlos schweigsam. Sein tägliches Verschwinden tarnte er
mit dem lapidaren Vorwand, eine Runde zu joggen, und tat geradeso, als sei
er ein Außerirdischer, der eine regelmäßige Entleerung nicht nötig hatte. Un-
sere Blödelei vermochte ihn weder mitzureißen noch aufzutauen. Wir fingen
an, ihn zu hänseln, löcherten ihn, ob er denn auch schon bei den Schweinen
gewesen sei.
»Yes.« antwortete er knapp und blickte zum Himmel, um die Wetterlage zu
prüfen.
»Und?« bohrten wir weiter und rückten ihm zur Pelle. Hat er denn gar
nichts zu erzählen?
»No problem!« gab er leicht genervt zurück, wandte sich wie von einem
Impuls gerufen ab, um angeregt ein Stöckchen am Boden zu untersuchen.
Yes … no problem! Der komplette Schweine-Report eines Kriegsberichter-
statters. Hat er die Kampfschweine nicht gesehen? So sehr wir ihn piesack-
ten, mehr bekamen wir nicht von ihm, das Thema schien für seinen
Geschmack nicht spaßig zu sein.
Erst unsere Abreise bewirkte einen spontanen Stimmungswandel. Seine
Freude, diesen rückständigen Ort endlich zu verlassen, versetzte ihn in
solchen Überschwang, dass er fröhliche Pfeif-Etüden intonierend, neben uns
zum Bus marschierte. Das nächste Dorf wenige Kilometer südlich war um ein
paar Jahre fortschrittlicher. Wir mieteten ein kleines Häuschen am Strand
inklusive eines Brunnens, dort eine mannshohe Mauer in U-Form, das ‘Bath-
room‘. Sogar eine ‘Toilet‘ gab es hier, hinter der Wohnhütte ein Holzverschlag
auf Pfählen über zwei Bretterstufen zu betreten. Überall tummelten sich auch
hier die Schweine.
»Was sie jetzt wohl zu fressen kriegen, wo es richtige Toiletten gibt?« sin-
nierte Big Chapati auf unserem Erkundungsstreifzug durch das Dorf.
»… natürlich dasselbe!«
»Was?«, siegessicher deutete sie auf die zwei Bretterstufen des Toiletten-
häuschens, das wir gerade passierten, »Und wie, bitte schön, sollen die
Schweine über diese zwei Stufen gelangen?«
Ich klärte sie auf, übertrieb ein wenig, damit der Schreck später nicht so
heftig wäre. Der Pfahlbau hatte nämlich einen Zweck! Der Boden darunter,
wohin ja alles plumpst, ist für die Schweine frei zugänglich. Dort können sie
bequem liegen und warten, bis ihnen eine frische Ladung auf die Schnauze
klatscht. Trotz meiner gründlichen Darlegung der ‘Indian-village-toilet‘ stiftete
die anschließende Praxis dennoch Aufruhr. Optimistisch stapfte Big Chapati
zum gegebenen Anlass hinters Haus, »Ich geh mal zu den Schweinen!« –
einen Holzknüppel brauchte man hier nicht.
Kurz darauf kam sie aufgelöst um die Ecke gerannt, »… I can‘t!« stam-
melte sie, als sei ihr soeben ein Dämon begegnet.
»What‘s the problem?« war die gelassene Reaktion des Kriegsberichter-
statters, eben darin vertieft, mit dem Stöckchen schnörkelige Muster in den
Sand zu malen.
Aufgebracht fuchtelte sie Richtung Klohäuschen, das von einer Horde
grunzender Schweine regelrecht bestürmt wurde.
»I can‘t!« erklärte sie mit schriller Stimme, »These big eyes … looking at
me!«
»You can.« entgegnete Simon ohne seine Sandmalerei zu unterbrechen.
»I can not!« widersprach sie entschieden, sie ließ sich doch nicht für
dumm verkaufen – wer mochte das schon, von gierigen Schweineaugen di-
rekt unter dem Allerwertesten angestarrt zu werden?
»Why not?« fragte Simon und Big Chapati, wegen der Begriffsstutzigkeit
endgültig in Rage, schrie so laut, dass es das halbe Dorf hörte:
»I CAN NOT shit on their nose!!!«
Das malende Stöckchen in der Hand schielte Simon sie an.
»You must!« murmelte er und blickte zu den Schweinen hinüber. Dabei
muss die Erinnerung an etwas ganz Bestimmtes mit enormer Wucht in sein
Bewusstsein katapultiert worden sein. Denn auf einmal machte sich der
Schalk an seinen Mundwinkeln zu schaffen, »You must, otherwise …«
Rasch drehte er sich zum Boden – sein Gesicht wollte er verbergen. Ein
merkwürdiges Glucksen kam von dort und dann lautes Prusten. Baff standen
wir da. Immerhin war das Simons erster Lachanfall auf indischem Boden –
oder überhaupt sein allererster?
Kichernd inspizierten wir seine Sandkritzeleien etwas genauer: Eine
riesige Schweineherde!
»Den Rest sollen wir uns wohl denken!« gackerten wir vereint.
Big Chapati pflanzte sich direkt vor ihn hin, »Now YOU, Simon! Go and try
yourself! We watch!« – und wir brüllten los, diesmal zu dritt.
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