Die Teufelin
- Sylvie Bantle
- 21. März
- 8 Min. Lesezeit

Wenn der Asphalt weich wird …
Das Flusscafé lag bereits in einiger Entfernung, als das Licht der
Straßenlaternen die zwei Frauengestalten einfing und lange Schatten
hinter ihre Schritte warf. Die Gasse atmete friedliche Stille. Es war kurz
nach Mitternacht – die meisten Bewohner schliefen hinter den dunklen
Fenstern und die letzten Besucher verließen die Altstadt.
Intensive Gespräche hatten sie geführt an diesem Abend, wie immer,
wenn sie sich trafen, was selten gelang, obwohl sie in der gleichen Stadt
lebten – Berta wohnte in dem Neubauviertel im Westen, Annagret am
nordöstlichen Stadtrand. Elf Kilometer trennten sie, Verkehrsstaus am
Tage, die sie in ihren Büros verbrachten, Berta nahe des Zentrums, An-
nagret in einem südlichen Stadtteil. Sahen sie sich nach Monaten wie-
der, war nicht der kleinste Hauch von Fremdheit spürbar, als wäre zwi-
schen ihren Begegnungen die Zeit stehen geblieben.
»… so ist es,« resümierte Berta, »die Dinge ereignen sich nicht ohne
Grund! Es liegt an einem selbst, die Gelegenheit zu ergreifen, die Chan-
ce zu nutzen. Es ist, als stehe man am Bahnhof und warte auf den rich-
tigen Zug. Plötzlich wird der eigene Name ausgerufen und man steigt
nicht ein … dann fährt der Zug ohne einen ab …«
Annagret schlendernd neben ihr hörte zu. Das gemütliche »tack –
tack« ihrer Absätze auf dem Pflaster hallte einen leisen dominierenden
Takt in ihre Ohren, der den Kopf dazu veranlasste, einen langsameren
zu wiegen, weil dort drinnen Bilder um Gehör turnten, eine Geschichte,
die in keinem Zusammenhang zu stehen schien, worüber Berta gerade
sprach. Irgendetwas muss diese Erinnerung angeregt haben, überlegte
Annagret, und dass es sich doch immer so abspielte, wenn sie zusam-
men waren, endlose Stunden redend ohne Pause: Ein Gedanke kickte
den anderen an. Diese Geschichte, die sich ihr nun aufdrängte, wäh-
rend die Freundin mit etwas völlig anderem beschäftigt war, handelte
von einem Mann Anfang sechzig. Als sie das Schweigen bemerkte –
und dies war eine weitere Eigenschaft ihrer Beziehung, dass die eine
stets zu spüren schien, sobald in der anderen ein neuer Funke im Ent-
stehen war – als ihr nun auffiel, dass Berta aufgehört hatte zu sprechen,
ließ sie ihre Gedanken frei.
»… der Mann ist Jüngster von einem halben Dutzend Kindern. Er hat-
te sich auf die Suche gemacht zu erfahren, wer sein Vater wirklich war.«
Eine Weile gingen sie schweigend zum »tack – tack …« ihrer Schrit-
te, so als müsste jede für sich ein inniges Erleben erzeugen, nachspü-
ren, wie es sich anfühlte zu erfahren, wer der eigene Vater ist.
»Dass er ein hoher Leutnant gewesen war, ist der Familie bekannt,
dennoch meinen alle, ja behaupten es sogar, der Vater habe nicht ge-
wusst, was mit den Deportierten geschah. Und da fängt der Jüngste an,
in diesem verbotenen Familienschatz zu graben, befragt jeden, die drei
älteren Schwestern, die noch leben, die Ehe- und Exmänner, Witwer,
Nichten, Neffen. In den Gesprächen kommen regelrecht Spannungen
auf, es fließen sogar Tränen. Emotional wird die Stimmung aber nur mit
den Schwestern. Die Mutter spricht auch, eine freundliche, coole, naive
Frau. Sie starb wenige Jahre vor der Fertigstellung des Films … es war
ein Dokumentarfilm im Fernsehen!«
Annagret blieb einen Moment stehen und blickte Berta mit wachsen-
den Augen an, »Und dieser Mann Anfang sechzig war der Filmemacher.
Denn einmal sagt er, wenn seine Mutter noch leben würde, hätte er sich
nicht getraut, diesen Film zu machen. Stell dir das vor …«
Wieder gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her. Ein
Mann Anfang sechzig wagt erst dann das zu tun, was er für richtig hält,
nachdem seine Mutter tot ist! Berta schauderte bei dem Gedanken. Sie
würde darauf keine Rücksicht nehmen, darin war sie sich sicher, es gab
nichts, was sie nicht getan hätte, nur weil ihre Mutter noch lebte – »wie
mächtig eine Mutter sein kann, und wie machtlos ihr Kind, sogar wenn
es bereits selbst alt ist.«
Wieder vergingen ein paar Takte, »tack – tack …«, bis Annegret den
Faden erneut aufgriff.
»Die älteste Schwester, also die Erstgeborene, war etwa zwanzig
Jahre älter als er und auch schon tot. Sie hat am meisten gelitten und
sich wohl zu Tode gesoffen. Ehemann und Tochter sagen, zeitlebens
habe sie geweint, sobald das Thema auf den Vater kam, der nach der
siegreichen Niederschlagung der Deportationen als Verbrecher hinge-
richtet wurde. Da war der Filmemacher gerade zwei Jahre alt gewesen,
er kannte also seinen Vater so gut wie gar nicht. Der nur wenige Jahre
ältere Bruder des Filmemachers hatte sich an einem Ort niedergelas-
sen, der nicht weiter von der Familie hätte entfernt sein können: Austra-
lien! Auch er lebt nicht mehr. Seine Tochter erzählt, wie schwierig es
gewesen sei, etwas über den Großvater zu erfahren. Als junger Teen-
ager hatte sie ein Foto von den beiden gesehen, ihr Vater aber habe er-
klärt, das wäre irgend ein Onkel gewesen …«
»Ich kann das einfach nicht nachvollziehen, ein Leben lang meinem
Kind so eine Lüge vorzuspielen … außer,« Berta hielt abrupt an und
schaute ihrer Freundin mit kaltem Schauder ins Gesicht, »außer man
schafft es nicht aus triftigen Gründen, die Wahrheit zu sagen. In diesem
Fall, diese Scham zu überwinden …« Sie überlegte, während sie weiter
gingen, »Allerdings gibt es immer Gründe! Trotzdem, es ist tragisch,
wenn man es im Leben nicht schafft, diese Gründe zu überwinden …«
»Ja, wirklich tragisch …«
Sie nickten synchron. Das »tack – tack« ihrer Absätze auf dem Pflas-
ter zwang sie, den Takt ihrer Schritte einzuhalten. Die Nacht feucht und
kühl, strich eine frische Brise durch die Gassen und berührte ihre Haut.
»Manchmal scheinen diese Gründe zu schmerzhaft zu sein …« fuhr
Annagret fort, »Anyway, die Spurensuche nach diesem geheimnisvollen
Vater führt in Archive, wo in den Akten alles schwarz auf weiß vermerkt
steht. Da gibt es nichts zu deuteln, es ist völlig klar und noch viel mehr
als lediglich ‘etwas gewusst haben‘: Dieser Vater hatte sogar Befehls-
gewalt! Trotzdem bleiben die Schwestern stur, für sie sei der Vater kein
Verbrecher! Die eine meint: ‘Man muss auch mal aufhören, es bringt ja
nichts!‘ Die andern beiden werden beinahe böse und reagieren mit Vor-
würfen gegen die Art ihres ‘kleinen‘ Bruders, so als verstünde der über-
haupt nichts von all den Dingen und benehme sich ungebührend. Ge-
gen Ende des Films sieht man das Grab des Vaters, auf einer der un-
zähligen Täfelchen an der Wand der Toten seine verwitterten Initialen –
sonst nichts! Wer die Geschichte nicht kennt, weiß nicht, wer damit ge-
meint ist und welche Tragödie, die große und die kleine, sich hinter die-
sen Initialen verbirgt.«
Wieder eine Weile nur das »tack – tack« und ein verlorenes Echo,
das von den Fassaden zu beiden Seiten zurückfiel, ein hohler Ton, der
die Verlassenheit der Straße eher multiplizierte als sie mit Klang zu fül-
len.
»Zum Schluss spricht ein Poet, dessen Familie unter dem Kommando
dieses Vaters umkam: ‘Das Böse ist ein Vakuum, weil es ständig in sich
aufnehmen muss, ständig am Verschlingen ist. Das Gute genügt sich
selbst! Das Böse findet nie Befriedigung!‘«
Berta sogleich Assoziationen von schwarzen Löchern ausgesetzt,
dachte unwillkürlich an Dante‘s Göttliche Komödie: Der mehrköpfige
Teufel in der Mitte, alles Bewegliche um ihn herum verschlingend.
Schon beim Wort ‘Vakuum‘ war ihr das schwarze Loch in der Mitte einer
leuchtenden Galaxie in den Sinn gekommen.
»Es stellt sich die Frage,« begann sie mit ihrer Überlegung, »nach-
dem es ja die Macht der Gedanken gibt – die wir ziemlich unterschätzen
– ob wir die Gesetzgebung des Universums verändern könnten, also im
Sinne von WIR erschaffen die Realität.«
»Du sagst es, Berta, und hier begreife ich endlich den Vorteil der
Schwerfälligkeit von Materie. Man stelle sich nur vor, jeder erschafft sich
gedanklich mit blitzschnellem Ergebnis seine eigene Realität – überleg
mal, was für ein Chaos!«
Sie lachten.
»Und alle Menschen dazu zu bringen, das Richtige zu visualisieren,
kann man ja gleich vergessen!«
»Ja, genau!« stimmte Annagret zu und bekam ihren Lehrerinnenblick,
»Deshalb muss die Verwirklichung, also die Materialisierung eines Ge-
dankens jeder Idee träge vonstatten gehen. Ist es nämlich das Falsche,
die falsche Richtung, kann man immer noch rechtzeitig umkehren …«
»Könnte!« warf Berta heftig ein, »Sollte man meinen.«
Sie hielten an der Ecke Salzstraße/Holzweg an, Berta musste hier
abbiegen, jedoch waren sie mit ihren Gedanken längst nicht zu Ende.
»Es scheint, hier ist irgend etwas schief gelaufen in der Evolution,
denn Umkehren tun die Menschen nicht. Sie stehen wieder auf, wenn
sie noch können – nach einem Totalzusammenbruch oder was immer –
und machen lediglich ein bisschen anders weiter.«
»Ja, nur die Kostüme verändern sich …« nickte Annagret und gähnte,
auf einmal fühlte sie lähmende Müdigkeit. Es war spät. Sie verabschie-
deten sich schnell, bevor ein neuer Gedanke aufglimmte.
»Und dank dir für die Kassette!« rief Berta ihr hinter her. Annagret
drehte sich mit einem kurzen Winken um, wollte sich beeilen, die S-
Bahn zu erwischen, sonst würde sie vierzig Minuten warten müssen.
Das »tack – tack« ihrer Absätze auf dem Pflaster teilte sich und verlor
sich in verschiedenen Richtungen. Als wäre es nie da gewesen, so still
lag dann die Straßenkreuzung.
Berta hatte ihr Auto im Parkhaus der Shopping-Mall geparkt, sie
brauchte sich nicht zu sputen. Die nächtliche Altstadtidylle ganz in sich
aufnehmend, wollte sie die Zeit noch ein wenig ausdehnen, bevor sie
wieder in die neue Welt eintauchte mit ihren hohen glatten Oberflächen
und geraden Linien, die die Augen kaum an einem Punkt festzubinden
vermochten, um sich darin zu vergessen. Ihr Büro befand sich zwar in
der Nähe der Stadtmauer, doch der Job ließ ihr keinen Freiraum, auch
nur für einen Sprung durch das alte Stadttor zu schlüpfen in dieses ver-
winkelte Viertel, wo alles krumm und bucklig von den Spuren der Zeit
vor Erinnerungen strotzte, wo jede Ecke, jeder Mauervorsprung, jeder
Pflasterstein das Gedächtnis einer großen Vergangenheit teilte, von der
kein Lebender mehr berichten kann. Hier in der Altstadt, dem Herzen
der großen lärmenden Stadt, verabredeten sie sich am liebsten. Jetzt,
während sie daran dachte, tauchte zum ersten Mal die Frage auf, ob es
wohl dieser Ort war, der den Fluss ihres Redens stets von neuem beleb-
te, ob dieses Konzentrat der Stadtgeschichte, ihre Ereignisse über
Jahrhunderte in diesen Gassen und Gebäuden komprimiert, so anre-
gend auf sie wirkte …
Vor dem Fenster hing die Morgenröte, als Berta heimkehrte. Die
Schnur der Jalousie schon in der Hand fiel ihr Blick in den rosa gefärb-
ten Himmel. Was für wundervolle Farben. Diese Pracht einfach so am
Himmel. Und alle schlafen hinter lichtdichten Rollläden. Nichts bekom-
men sie mit von diesem Wunder. Sie ließ die Jalousie oben und sank
müde in die Kissen.
Lange war ich unterwegs. Allein durchwanderte ich viele Szenen wie
die Straßen einer großen fremden Stadt. Dabei stellte ich mir vor, die
Menschheit sei ausgestorben und ich als einzige übrig geblieben …
Am frühen Morgen gelange ich in eine schmale Gasse. Der Ort ist mir
unbekannt, kleinstädtisch, fast mittelalterlich. Gerade malt sich der neue
Tag rosa in den Himmel. Eine Zeit lang stehe ich da, versunken in die-
ses rosafarbene Kunstwerk. Es ist so schön still hier, beinahe unnatür-
lich still. Als ich das denke, beobachte ich, wie unweit von mir sich der
Asphalt zu wölben beginnt und dann der Kopf oder Knauf eines langen
Stabes auftaucht und stetig höher wächst – jedoch nicht statisch senk-
recht, sondern in horizontale Richtung geführt langsam nach oben stei-
gend. Das Phänomen vollzieht sich absolut lautlos! Dann sehe ich, wer
das macht: eine rote Gestalt. Mit diesem Stab in der Hand bewegt sie
sich mühelos aus dem Asphalt heraus, als sei er weich wie Quark. Ich
blicke zu meinen Füßen – wo ich stehe, ist fester Boden.
Fasziniert schaue ich zu. Als die rote Gestalt vollständig aus dem
Asphaltboden heraus gestiegen ist, knallt es mir in den Verstand: Das ist
der Teufel! Er ist weiblich und jung. Den silbernen Stab in der Hand,
geht sie ein Stück, aus meiner Sicht zur linken Seite, bleibt dann stehen
und beugt sich hinab. Dort befindet sich ein geheimes Versteck für ihre
weltliche Kleidung. Sie zieht sich um für die Welt! Denn der Teufel
kommt nie im gleichen Kostüm, donnert es ihr durch die Sinne. Was sie
da tut, sieht nach Gewohnheit aus. Modern und sommerlich kleidet sie
sich an, ein geringeltes Shirt und grasgrüne Shorts. Einmal blickt sie in
meine Richtung, wie um sich zu vergewissern, ob sie beobachtet wird.
Wegen mir scheint sie nicht beunruhigt zu sein, denn mein Schauen ist
Faszination, nicht Angst. Die Teufelin sieht das mit einem Blick.
Nein, wenn ich Teufelin sage, stimmt etwas nicht. Das ist der Teufel
und er ist eine Frau! So ist es richtig. Und Angst habe ich nicht, weil ich
fasziniert und neugierig bin. Vielleicht ist es auch Stolz, Zeugin dieses
Schauspiels zu sein – möglicherweise bin ich die einzige hier. Warum
niemand da ist außer mir, mag ohne großen Grund sein. Darüber denke
ich nicht nach. Es ist Morgendämmerung, die anderen, falls es doch
welche gibt, schlafen noch. Ich aber bin hier und schaue zu, wie der
Asphalt weich wird, weil er sich erwärmt, wenn der Teufel kommt.
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