Fisch Story neu
- Sylvie Bantle
- 21. März
- 16 Min. Lesezeit

Als ich ein Fisch war …
»…als ich ein Fisch war, hatte ich einen Freund…«
Max starrte auf die Zeilen, die Celine in ihr Tagebuch geschrieben hat-
te, bevor sie ins Wasser gegangen war.
Als ich ein Fisch war, hatte ich einen Freund!? So ein Quatsch! Max
begriff das nicht, Celine hatte tausend Freunde, und er, ihr Ehemann, war
er etwa nicht ihr Freund? Wer kann schon kapieren, was in diesem hüb-
schen, verrückten Kopf vor sich geht. Der Gedanke, dass sie für ihn un-
berechenbar blieb, stimmte ihn grimmig. Stöhnend sank er in die weichen
Polster des Liegestuhls. Jetzt war er zu schlapp, um der Hirnakrobatik
seiner Frau zu folgen, jetzt wollte er ein wenig dösen.
Es war an einem Nachmittag auf den Fidschi-Inseln vor langer Zeit.
Die Luft schwül und das Dickicht bewohnt von Moskitoschwärmen, Fieber
in jedem Winkel lauernd, Abenteuer überall – wenn man sie sah. Der
Himmel schwer, in farblose Melancholie gestülpt, gedämpftes Gleißlicht
ohne Schatten, müde und faul, wer nichts zu tun hat außer zu atmen …
Max blätterte gelangweilt im Tagebuch seiner Frau und ohne dass er
es wollte, ließ er sich auf den nächsten merkwürdigen Satz ein:
»… noch bin ich ein Mensch, von Lust und Angst regiert … von bele-
bender Neugier und Ungeduld, glühend in allem Tun, eine Reisende
eben, deren Zielgerade in den Tod führt.«
Spinnt die?! Was schreibt sie da für einen Mist! Max kann es nicht
glauben, stemmt sich gegen das aufbäumende Herzklopfen. Lieber in al-
ler Klarheit bestätigt sehen, warum ihn dieses Geschreibe nie interessiert
hat. Meine Güte, was für Hirnergüsse! Da hat er wirklich Besseres zu tun.
Was ist bloß in seine Frau gefahren? Wie unter Zwang liest er den-
noch weiter, die Sätze analysierend, ob sich in ihnen eine verschlüsselte
Antwort entdecken ließe.
»… Das Ende der Reise?«
Was soll der Quatsch! Max verspürte den Druck, gleich aus der Haut
zu fahren.
»Das Suchen auf dem langen Weg der Reisenden hält ihr Leben im
Fluss – bis zum Tod, wenn sie durch die Zielgerade schreiten, empfangen
von den vielen Seelen. Von ihnen wissen die Lebenden wenig …«
Max blickte auf und überlegte. Celine hatte beschlossen, schnorcheln
zu gehen. Sie war neugierig auf das Leben unter Wasser und hatte doch
Angst vor der Tiefe. Das stimmte ihn beruhigend. Bis zu den Knien nur
reichte es ihr, so stand sie da, vor sich die weite, verschlafene Inselsee.
So wird sie vielleicht noch eine zeitlang da stehen, er kannte doch seine
Celine.
Ohne Gedanken starrte sie auf das Meer, ganz taumelnd gemacht
von dem tanzenden Gleißlicht, das mit dem nassen Element eine eigene
Choreographie auf der bewegten Wasseroberfläche inszenierte. Plötzli-
ches Kitzeln an ihren Waden. Sie blickte hinunter. Ein kleiner Fisch! Der
ziepte mit seinen winzigen Lippen an ihrer Haut! Sein flaches Pfannku-
chen-Körperchen, gerade mal die Größe von ihren zwei Daumen, hatte
die Schöpfung mit greller Bemalung versehen: weiße und schwarze Strei-
fen vom Bauch bis zum Rücken. Die Streifen bilden einen rechten Winkel
zum Horizont! Die geometrischen Raffinessen der Naturverblüfften sie.
Was für ein wundersames Fischlein! Sie war entzückt, weil es sich so zu-
traulich gebärdete. Diese Emsigkeit! Drollig, wie es ihre Waden umflössel-
te und sie mit seinen zarten Fischleinlippen förmlich abknutschte – ein
schönes Kitzeln.
“Was gibt es da Leckeres auf meiner Haut? Oder ist es etwas ande-
res?“ redete sie in das Wasser hinein.
Die zärtliche Berührung von so inbrünstiger Art rührte sie. Innendrin
erwachten Glückseligkeiten, lächelnde Wesen, die seit Jahrzehnten ge-
schlafen hatten – zum Schlafen verurteilt waren! Eine freundliche Stille
strich um sie mit winzig kleinen Lauten, ein sanftes Streicheln, das die
Zeit anhielt …
“Was ist da?“ rief Max von seinem Liegestuhl und richtete sich neugie-
rig auf.
Es war ihm ein Rätsel, warum seine Frau seit einer Viertelstunde wie
versteinert im Wasser stand, das ihr zudem nur bis zu den Knien reichte.
Der Zwiespalt, sie hätte eine Sensation entdeckt oder eben nur ein be-
langloses Objekt anglotzte, hielt die Zweifel stramm, in knietiefem Wasser
wäre nichts Lohnenswertes zu finden. Mit Verzögerung kam ihre Antwort.
“Da ist ein kleiner Fisch!“
Sie blickte kurz in seine Richtung, sah die abfällige Geste und wie
Desinteresse und Langeweile ihn wieder in Liegeposition schoben.
“Ein kleiner Fisch!“, er lachte nur leise vor sich hin.
Sie konnte ihn nicht hören, las aber jedes Wort aus seinem Gesicht.
Ein kleiner Fisch konnte einen Taucher wie ihn nicht beeindrucken. Er
horchte erst auf bei Giganten wie zum Beispiel Haie und Delfine. Da
konnte er getrost weiterdösen – soll sie ihren Spaß haben mit dem klei-
nen Fisch!
Ein Einheimischer mit einem schäbigen Tuch bewandet spazierte am
Strand entlang. Die Zeitung unter seinem Arm verriet, er würde den Fi-
schern am Ende der Bucht etwas von ihrem Fang abkaufen. Hier las man
die Zeitung am Morgen und am Nachmittag trug man sie beim Einkaufen
als Verpackungsmaterial unterm Arm.
Nur wenige Meter von Celine entfernt, blieb er stehen und lächelte zu
ihr hinüber. Als sie kurz aufschaute und sich ihre Blicke trafen, spürte sie:
Er würde keine dummen Fragen stellen, er verstand, was sie da tat.
Der kleine Fisch indessen zupfte an ihren Waden so beharrlich, dass
sie sich nicht länger bitten ließ. Vorsichtig, damit sie ihn nicht erschreckte,
stapfte sie ein paar Schritte weiter ins Wasser – der kleine Fisch folgte ihr!
Unablässig mit den Flossen wedelnd, wie hungrig knabbernd arbeitete er
sich bald an ihren Schenkeln hoch – das Wasser reichte ihr nun bis zum
Bauch. Langsam ließ sie sich hinein gleiten, und das Gesicht eingetaucht
durch die Schwimmgläser blickend hielt sie Ausschau nach den weißen
und schwarzen Streifen. Der Schnorchel im Mund versorgte sie mit der
Luft von oben – das ging ganz automatisch, denn sie vergaß vor lauter
Staunen, dass sie sie zum Atmen brauchte. Ein Kitzeln am Bauch er-
schreckte sie kurz, dann eine kecke kleine Welle, die sich unter ihr ent-
lang wirbelte bis über Brust und Hals, um das gestreifte Fischlein direkt
vor die Unterwassergläser zu spucken. Ist das möglich? Was für ein drol-
liges Kerlchen du bist! In der gleichen Höhe eine Handbreit vor ihren Au-
gen schwimmt es eifrig voran, als wollte es die Menschenfrau irgenwohin
führen. Dabei blickt es immer wieder um, wie um sich zu vergewissern,
ob sie noch hinter ihm ist, und es winkt mit seinen zarten Seitenflossen,
als wolle es sagen: “Komm, lass uns ein bisschen zusammen schwim-
men!“
Über das wundersame Wesen rätselnd, schwimmt sie hinterher, kein
Arg, kein Zauder, keine Angst mehr. Sie kann nicht glauben, was sie da
sieht. Wie viel Energie er hat, dieser wundersame Zebrafisch! Sie kommt
nicht so schnell hinterher, sie ist kein Fisch, ihre Flossen sind noch nicht
entwickelt. Der gestreifte Begleiter ist bereits eine Armlänge entfernt, un-
ter ihnen bald kein leuchtend weißer Sand mehr, der das Wasser türkis
färbt, sondern dunkles Marineblau, fast schwarz. Wie weit sie zusammen
geschwommen sind! Mit mulmigem Gemüt verharrt sie im Wasser lie-
gend, sie weiß warum: die dunkle Tiefe fürchtet sie. Das Fischlein
schwimmt noch hurtig weiter und schon denkt sie: Ich werde es nie wie-
der sehen! Da hält es plötzlich an, wendet abrupt und kommt flossenwe-
delnd auf sie zu geschossen, als wolle es sagen:
“Was ist los, warum kommst du nicht?“
Direkt vor ihrer Unterwasserbrille hält es an, ganz aufgeregt das Glas
abküssend, hier und da und dort … und blickt sie fragend an, so nah,
dass sie in seine Augen blicken kann.
Sie wagt es nicht, weiter hinaus zu schwimmen. Es ist die Dunkelheit
unter ihrem Bauch! Die Angst vor diesem riesigen Raum, vor so viel Was-
ser! Das Fischlein schaut sie an, ungläubig, zweifelnd, und wedelt auf-
munternd mit den Flossen. Ich bin noch nicht so weit, denkt Celine, noch
nicht. Mit behutsamen Armbewegungen, um den seltsamen Gefährten
nicht zu verjagen, ändert sie die Richtung und zieht einen sanften Bogen
zurück zum Strand. Das gestreifte Fischlein weicht ihr nicht von den Au-
gen und eilt vor ihrer Brille her …
Das Kreischen einer Krähe riss Max aus seinem Schlummer, über
dem Lesen war er kurz eingenickt. Das Tagebuch noch aufgeschlagen auf
seinem Bauch starrte er missmutig auf die Seiten voll geschrieben mit
den ausladenden Linien von Celines Handschrift. Es ließ sich nicht ver-
hindern, dabei einige Sätze zu lesen.
»… arglos folgte ich ihm, amüsiert und beglückt über sein eifriges
Schwimmen vor meiner Brille, und staunte über meinen Gleichmut, denn
ich fühlte mich sicher und beschützt von diesem kleinen Zebrafisch, der
nicht größer ist als meine zwei Daumen …«
Max bäumte sich auf. Celine ist nicht zu helfen! Er stieß einen lauten
Seufzer aus. Wäre es nicht seine Frau gewesen – aber so? Er konnte
seine eigene Ehefrau doch nicht zur Verrückten erklären! Das tat er nur
im Streit oder im Spaß, dann allerdings auch vor anderen. Doch im Ernst,
er mit einer Verrückten verheiratet?! Niemals. Freilich, sie ist etwas über-
spannt und rebellisch gegen alles, was als normal gilt, aber sie besitzt In-
telligenz. Unbehaglichkeit nagte an ihm, er kratzte sich hier und da, dreh-
te sich nach rechts, nach links, bis ihm bequemer war. Das Tagebuch
rutschte dabei unbemerkt in den Sand. Dann endlich gelang es ihm, dö-
send zu entfliehen und hinüber zu gleiten in paradiesische Welt.
Auf der Strecke zurück zum Strand rückt unter ihren Bauch bald wie-
der weißer Sand, bald ist das Wasser nur mehr einen halben Meter tief.
Celine gefällt das Schwimmen mit dem Zebra-Fisch, genießt das Gefühl,
in einen Fisch verwandelt zu sein, so lange sie im Wasser ist. Sie will den
kleinen Fisch jetzt nicht verlassen – mein Freund! Er beschützt mich! Er
kann das, obwohl er so klein ist – das Meer ist sein Reich. Fast haben sie
den Strand erreicht. Für große Fische wie Celine wird es schwieriger zu
schwimmen, für ihren kleinen Freund dagegen ist es noch lange tief ge-
nug. Wenn sie nicht stranden will, muss sie umkehren, zurück ins Tiefe.
Sie macht eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad und steuert tieferes
Gewässer an. Ihr Freund, der Zebra-Fisch, folgt ihr auf der kürzesten
Strecke. Kitzeln am Bauch entlang, an Brust und Hals die kecke kleine
Welle. Schwups schießt er unter ihr hervor, um sogleich seine Position
eine Handbreit vor ihrer Nase wieder einzunehmen und dann unbeirrt
voran zu schwimmen. Sie lacht. Was er wohl tut, wenn ich langsamer
werde? Kaum gedacht, probiert sie es aus. Zebra-Fisch sofort alarmiert
hält inne – hat ihre Absicht bemerkt – und flosst mit fragenden Augen auf
sie zu.
“Was hast du? Ich bin doch immer bei dir!“
Knutschend fegt es über das Brillenglas, Celine muss lachen – wo bin
ich hier? Kann das wahr sein? Behutsam streckt sie ihren Finger hin, den
Zebra-Fisch mit vielen zarten Küssen begrüßt. Es geht ja nicht anders,
wie sonst könnten sie sich küssen? Ihr Mund ist einfach zu groß, sie wür-
de ihn verschlucken. Langsam, um keinen Wellengang auszulösen, brei-
tet sie ihre Arme aus, ein leichter Stoß mit den Flossen an ihren Füßen
bringt sie wieder in Bewegung. Sie kann es bereits fühlen, wie Füße und
Flossen zusammen wachsen. Zebra-Fisch ist sofort bereit, dreht sich ge-
schwind schon um und übernimmt die Führung Richtung Tiefe. Die Quir-
ligkeit seines Wesens, die nimmermüden Flossenschläge, um ihr voran
zu schwimmen, das lustige Zappeln und Schlängeln seines zierlichen
Körpers, jedesmal wenn er besorgt zurück kehrt und inne hält vor den Un-
terwassergläsern, seine zarten Küsse, dieser gütige Blick, der sagt:
Komm mit, wir schwimmen in die Freiheit! das alles rührt sie in nie erleb-
ter Weise. Darauf ist sie nicht vorbereitet, ein kleines salziges Meer quillt
aus ihren Augen …
Wieder riss ein Krähenschrei Max aus seinem Schlummer, ein vor-
wurfsvoller Blick zum Himmel, dann auf das Tagebuch vor sich. Eine Notiz
war auf den Rand der Seite hingekritzelt:
»Max und all die anderen halten mich für gefühlsdusselig und hyste-
risch, bloß weil es mir wichtig ist, dass Freunde aufeinander warten!«
Die spinnt doch! Seine Erinnerung weigerte sich standhaft, den Sinn
der Worte in Bildern vorzuführen. Im Gedächtnis lag lediglich griffbereit,
was angenehm und gefällig erschien: Schmeicheleinheiten, die ihn mit
Bedeutung versorgten. Alles weitere wie die Bedürfnisse anderer war luft-
dicht unter Verschluss gehalten. Dort lagerten all die Materialien, die Bau-
steine für viele Antworten gewesen wären. Erlebnisse, viel zu anstren-
gend für seinen bequemen Lebenstil, waren von der Zensur als lästig de-
klariert und deshalb unter ‘unwichtig‘ klug aussortiert – unbedeutende
Vorfälle, die ihn nicht weiter beschäftigen sollten. Auch jene Szenen, die
gleich Metaphern den ganzen Illusionsgehalt ihrer Beziehung in sich bar-
gen, waren dort untergebracht. Celine hatte oft genug beim Namen ge-
nannt, was ihr das ständige Defizit vor Augen hielt: Gemeinschaft! Jene
Szenen – fast heimtückisch in ihrer simplen Art – waren im Alltagsgewand
schwer zu durchschauen. Da mochten sie spazieren gehen, mit Freunden
oder allein, auf dem Weg ins Kino, ins Restaurent, zu einer Ausstellung,
zu einer Party, und jedesmal sah sie den Beweis, dass sie beide sich
nicht gemeinsam unterwegs befanden. Sie konnte sich darauf verlassen,
dass er – sei es weil mit jemandem aus der Gruppe in ein Gespräch ver-
tieft – schon bald den Rhythmus der anderen ignorierend vorn an der
Spitze lief. Er hatte einfach nie bemerkt, wie der Rest – darunter auch Ce-
lin – weit hinter ihm zurückfiel …
Auflehnung in allen Zellen und trotzdem dieser Wunsch, sein altes
Leben instand zu setzen, überlegte er nach allen Seiten hin. Es müsste
doch einen Hinweis zu finden sein! Er dachte nach, wieder und wieder,
bis die Erinnerung Bilder von ihrem Geburtstag frei gab. Er hatte sie in ein
neues Lokal ausführen wollen. Los fuhren sie noch gemeinsam mit dem
Fahrrad, doch dann trat er so schnell in die Pedale, huschte bei rot gera-
de noch über die Kreutung, bis er sie bald abgehängt hatte. Weil sie eine
Straße bei rot nicht überquerte, konnte sie ihn irgendwann nicht mehr se-
hen, und weil sie das Lokal nicht kannte, fuhr sie daran vorbei. Erst eine
Stunde später traf sie ein – ihr Gesicht würde er nie vergessen. Unver-
ständnis und Zorn auf beiden Seiten. Er hatte doch nicht beabsichtigt, wie
es gekommen war, vielmehr wäre ihm einfach nicht in den Sinn gekom-
men, auf sie zu warten. Wenn sie hinter ihm bei rot stehen blieb und ihn
dann aus den Augen verlor, das konnte doch nicht seine Schuld sein! Die
Freundin war ihm wie aus dem Kopf gewischt – sein sausendes Fahrrad,
die Geschwindigkeit hatten seinen sportlichen Ehrgeiz gepuscht. Was Ce-
line ihm auch vorwarf und darzulegen versuchte, hinterließ keinen blei-
benden Eindruck in ihm außer der lapidaren Erkenntnis, ihr Eigensinn sei
eben ihren zahlreichen Spleenen zuzuordnen. Was soll‘s, wie hätte er
auch ahnen können, dass ihr das Warten so wichtig war? Dann wartete er
halt beim nächsten Mal! Doch wie er das sagte, stellte sie gar nicht zu-
frieden. Wozu sollte das gut sein? Ja, wozu? Das fragte er sich auch, und
als sie erneut versuchte, ihm ihr Anliegen nahezubringen, meldete sich
seine Aufmerksamkeit blitzschnell ab – was sollte er dagegen tun? Auf ihr
Verlangen einzugehen, hielt er der Mühe nicht wert – was hatte er davon?
Sie wird schon wieder Ruhe geben! tönte er sich selber zu und zog sich
trotzig schweigend zurück …
Jetzt erinnerte er sich, doch Reue verspürte er nicht – hatte er etwas
falsch gemacht? Annehmend, die Denkarbeit sei hiermit beendet – denn
was sollte es da noch zu bedenken geben, starrte er auf das Tagebuch in
seinen Händen.
… Auf einmal weiß ich, was richtig ist! Was für ein Jubel – hurra! Sie
schreit es lachend – wie ein Fisch! Sie hört sie, ihre Unterwasserstimme,
auch Zebra-Fisch hat sie gehört – er blickt sich kurz um und weiß, was
sie fühlt. Aus reinem Spaß macht sie von neuem eine Kehrtwende um
hundertachtzig Grad, und es dauert keine Sekunde, bis sie es spürt, die-
se kecke kleine Welle an ihrer Unterseite entlang bis zur Brust und
Schwups! das Fischlein vor ihre Nase spuckt. Da ist es wieder! Sie hat es
doch schon immer gewusst, wie es richtig ist: Freunde verlieren sich nicht
aus den Augen! Ein winziger Fisch zeigt mir, dass es wahr ist, woran ich
glaube. Sie ist erschüttert, die Einsicht wiederholend wie ein Gebet.
Freunde verlieren sich nicht aus den Augen! Abermals tropft ein kleines
Meer aus ihren Augen, salziges Wasser drinnen und draußen – sie löst
sich auf.
Sie schwimmt nicht weiter, weil das alles sie überwältigt. Mit ausge-
breiteten Armen liegt sie da und lässt sich von dem Wasser tragen. Der
Zebra-Fisch hat den Stillstand sofort wahrgenommen. In seinem Flossen-
schlag jetzt Sorge als er umkehrt und auf sie zu eilt, und seine putzigen
Augen fragend vor ihren Unterwassergläsern. Dann mit einem Mal be-
ginnt er, auf der Stelle loszuzappeln – ein possenhafter Tanz. Er versucht
sie aufzumuntern! Und währenddessen sie ihm sprachlos zuschaut, hört
er nicht auf, sie unentwegt zu mustern, wie um jede Regung von ihrem
Gesicht abzulesen. Sie lächelt. Selig ist sie, kann es aber nicht denken,
sondern weiß nur: Kein Mensch hatte sie jemals so wirksam getröstet.
Sachte hebt sie einen Finger, um ihn zu berühren – wie fühlst du dich an,
du wundersamer Freund? Prompt schnuppern seine Lippen an ihrer Fin-
gerkuppe, eine so zarte Berührung wie man sie nur träumt.
Es ist nicht wahr! Es wahr ist! Stimmen in ihrem Innern ringen um
Zweifel und wollen ihre Klugheit beweisen, aber nur die eine Sorte, die sie
schon lange nicht mehr überzeugen, die anderen Stimmen nämlich blei-
ben stumm und schauen – friedlich, friedlich, friedlich … Zum ersten Mal
schmeckt sie den Inhalt in diesem Wort. Eine neue Form von Sinnen pulst
in ihr. Sie fühlt ihn nicht, den Körper, der wie aufgelöst nun ein Lächeln im
Wasser ist. Doch den Rausch nimmt sie wahr, der sie durchspült und ihre
Gedanken glasklar wäscht. Sie hält ganz still, denn niemals zuvor in ih-
rem Leben haben Fischlippen ihre Finger geküsst …
Draußen scheint die Zeit davonzufliegen und angesichts der Ewigkeit
doch stillzustehen. Irgendwann wird das Wasser beschließen, mehr Be-
wegung zu wünschen. Von einem geheimen Ruf angezogen, schwimmen
sie weiter, das ungleiche Gespann, ein gestreiftes Fischlein voran und
hinter ihm eine Menschenfrau.
Es tut gut, der Führung nachzugeben – sich zu ergeben! Immer gibt
es etwas zu sehen. Manchmal taucht unten im Sand etwas auf. Hebt sie
es mit einem Stock oder mit den Händen hoch, sind auch gleich die ge-
streiften Fischmundlippen neugierig und fachkundig zur Stelle. Gemein-
sam wühlen sie ein bisschen hier und ein bißchen da, doch sobald sie
weiterziehen, nimmt Freund Zebra-Fisch seine Position eine Handbreit
vor ihrer Nase wieder ein und schwimmt voran. Sie lässt ihn nicht aus den
Augen, nur gelegentlich wirft sie einen Blick hinunter, nach rechts oder
nach links. Allein seinem possierlichen Flossenschlag zuzuschauen und
dabei Fischsein zu lernen, ist ihr genug, um zu spüren, dass sie lebt.
Konzentriert beobachtet sie, wie der Fischfreund durch das Wasser glei-
tet, gibt nicht auf, ihn nachzuahmen, und fühlt sich mit jeder Bewegung
besser. Ich bin ein Fisch! Jetzt ist sie sogar fähig, lautlos zu jubeln. Gibt
es noch Zweifel? Alle Sinne sind belegt mit diesem Fischseinglück.
Gelegentlich – wenn sie in ihr Blickfeld geraten – erschreckt sie sich
über ihre eigenen Hände, die wie seltsame Krakenarme anmuten. Die
Maße sind verwirrend, hatte sie sich doch wie ein kleiner Fisch empfun-
den. Dann fällt ihr wieder ein, dass sie ja viel größer und noch menschlich
ist, deshalb Arme und Hände zum Schwimmen und Steuern benötigt.
Meine Flossen! Die Verwandlung ist bereits im Gange – hatte sie je etwas
anderes getan, als das Meer zu durchpflügen?
Ein schrecklicher Traum schreckte Max aus seinem Nachmittag-
schlummer, doch, obwohl so angsterregend, war er wie gewöhnlich bei
offenen Augen spurlos verschwunden. Dafür klopfte das Herz umso lau-
ter, ruhelos und schweißtreibend, an Weiterdösen war nicht mehr zu den-
ken. Verdrossen hob er Celines Tagebuch wieder auf, im Schlaf war es
aus seinen Händen geglitten, schüttelte den Sand heraus und blätterte
sich ziellos durch die Seiten. Die Suche nach Ablenkung setzte ihn dring-
licher mit jedem aufgebrachten Atemzug unter Druck. Einen Halt brauchte
er, einen sicheren Griff nach etwas Festem, wie um den Verstand festzu-
halten, damit ihn die Dämonen ihm nicht entrissen. Rastlos trieb er über
die Zeilen, was auch immer in seinem Kopf losbrach, es ließ sich weder
zähmen noch bündeln.
»… Niemals hätte ich einem Menschenmund geglaubt, was ich hier
erzähle …«
Er stöhnte auf. Was seine Frau da geschrieben hatte, verursachte
Schwindel. Wie um sicher zu sein, dass er nicht träumte, las er laut, seine
eigene Stimme zu hören, wirkte ein wenig beruhigend.
»… eine Fischwerdung kann man nicht einfach glauben oder nicht.
Daher bleibt diese Geschichte lediglich eine Geschichte. Diejenigen, die
selbst einmal ein Fisch gewesen sind, wissen, wovon ich spreche …«
Verstört ließ Max das Tagebuch in den Schoß sinken, starrte auf das
Meer in der weiten Bucht. Sah er dort draußen nicht einen Schnorchel
über der Wasseroberfläche schweben? Wie weit sie sich hinaus wagt! Sie
hat doch Angst vor der Tiefe! Warum kehrt sie nicht um? Der Blick auf die
Uhr schlug Alarm, augenblicklich überfiel ihn Panik. Sechs Stunden sind
vergangen! Gleich wird die Sonne untergehen! Die Erkenntnis schlug wie
eine Bombe ein mit lautem Lärm. Eine Starre hielt ihn fest, weil er nicht
wusste, was als erstes tun. Er blickte um sich in alle Richtungen – ob ihm
nicht jemand helfen könnte! Plötzlich sprang er auf und lief die wenigen
Schritte zum Ufer.
“Celine! Celine!“ schrie er und fuchtelte mit den Armen in der Luft.
Der Schnorchel bewegte sich stetig fort und immer weiter weg. Ner-
vös untersuchte er die Stelle, wo sie vor sechs Stunden gestanden hatte,
bevor sie im Meer verschwand, aber es gab nichts Auffälliges festzustel-
len.
“Celine! Celine!“
Noch lauter schrie er nach der verschwundenen Frau. Von wilder
Angst gejagt, riss er die Hände über den Kopf und sprang dazu in die
Höhe. Der Mann mit der Zeitung kehrte von seinem Einkauf zurück, das
Papier aufgebläht von den Fischen, die jetzt darin eingewickelt waren. Er
war lang fort gewesen, hatte den Fischern geholfen, die Netze zu flicken.
Dabei hatten sie sich unterhalten und danach noch etwas getrunken. Be-
kümmert beobachtete er den Fremden in der knappen Badehose, der wie
ein Verrückter am Ufer hin und her hüpfte und kreischte. Er tat ihm leid,
was könnte er ihm sagen?
“He, Sie da!“ rief Max und rannte auf ihn zu, “Meine Frau schwimmt
dort draußen, Sie müssen mir helfen!“
Mit zittrigen Fingern deutete er zum Horizont, seine heisere Stimme
klang befremdlich für einen erwachsenen Mann, als sei er im Stimm-
bruch, “Sehen Sie den Schnorchel? Da … dort! Der gelbe Schnorchel!“
Was sollte der Alte zu dem armen Mann schon sagen. Ich sehe
nichts!? Da war kein gelber Schnorchel auf dem Wasser. Er erinnerte sich
an den glücklichen Blick der Frau, die knietief im Wasser stand. Diese
Funken in ihren Augen hatten ihn gerührt – die beseelte Glut eines Kin-
des. Wie ein Kind spielt sie da! hatte er bei sich gedacht, hatte ihr zugelä-
chelt, noch eine Weile zugeschaut und war dann weiter gegangen.
Bald war das gesamte Fischerdorf informiert und in Aufruhr geraten,
auch die halbe Belegschaft des Hotels lief am Strand zusammen. Mit Fa-
ckeln umringten sie den armen Ehemann, der gerade im Begriffe war,
seinen Verstand zu verlieren.
Die Nacht längst angebrochen, war es sinnlos, mit Booten hinauszu-
fahren, sinnlos aus zweierlei Gründen, wie sie erklärten. Zum einen war
da die Finsternis und zum anderen die freie Entscheidung der erwachse-
nen Frau – sie war kein junges Mädchen mehr. Sie muss doch wissen,
was sie will! so sprachen sie und zuckten die Schultern angesichts des
durchgedrehten Ehemanns, der nicht begriff, wo von sie sprachen.
Die Mythen der Fischer waren voll von solchen Geschichten. Sie ver-
ehrten die Menschen, die eines Tages mit den Fischen ziehen, die ver-
wandelt wiederkommen oder für immer verschwinden. Die Einheimischen
erkannten in dem Schicksal der Fremden eine göttliche Segnung, die ließ
sich nicht in Worten sprechen. Für den Ehemann bedeutete die Entschei-
dung seiner Frau nichts als sein Ende. Niemand konnte ihm da helfen.
Man brachte ihn am nächsten Morgen mit dem Boot zur größeren Insel
hinüber und dann in die Klinik der Stadt. Dort wurde er zwar nicht geheilt,
sondern nur medizinisch versorgt, doch immerhin wieder zur Funktion
gebracht – von Heilung wollte er nichts wissen.
Nachdem der Strand wieder dem Meer gehörte, spazierte der Einhei-
mische wie jeden Tag mit der Zeitung unter dem Arm an jener Stelle vor-
bei, wo Glück und Unglück zusammentrafen. Er sah, wie der Wind durch
das verwaiste Tagebuch blätternd die Gedanken der verschwundenen
Frau allmählich mit Sand zuwehte. Der Ehemann hatte es nicht mitge-
nommen. Da nun der Wind damit spielte und sich sonst keiner der Men-
schen dafür interessierte, hob er es auf. Instinktiv war ihm klar, es muss
die Frau geschrieben haben. Zwischen die Seiten legte er das ausge-
trocknete zierliche Gerippe eines kleinen Fischchens, das wie zufällig da-
neben lag, und trug das Buch heim. Dort fand es einen ehrenvollen Platz
in einer freien Nische des häuslichen Altars, wo Tag und Nacht ein
Flämmchen tanzte für die Ahnen, die Heiligen, die Geister und Dämonen
– für all die Wesen, die sich vor menschlichen Augen verbargen. Hier wa-
ren sie willkommen, die sich aus der Welt der Zeit davon gestohlen hat-
ten, hier bereitete er ihnen einen bescheidenen Ruheort.
An manchen Tagen griff er nach dem Tagebuch der Fremden, um es
bei dem zierlichen Fischgerippe aufzuschlagen, und obwohl er die Spra-
che nicht verstand, las er die fremdklingenden Worte und sprach sie leise
wie ein Gebet:
»… als ich ein Fisch war, hatte ich einen Freund. Er zeigte mir das
Meer von innen und ich folgte ihm. Da vergaß ich, wer ich bisher gewe-
sen bin, auch den Namen, den Mutter und Vater mir gaben! Ich glitt durch
das Meer, schwamm der Zeit davon – meine Vergangenheit nicht größer
als ein Sandkorn. Und im Reich des Augenblicks gelangte ich in meinen
Hafen …«
Der Alte hob lächelnd den Kopf und blickte über das Meer.
“Von dort kehrt niemand zurück …“ murmelte er und lächelte.
Comentarios