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Früher Heute Morgen Gestern

  • Autorenbild: Sylvie Bantle
    Sylvie Bantle
  • 21. März
  • 16 Min. Lesezeit


Früher…


…früher glaubte ich, alle Menschen seien gut, der Arzt, dem ich meinen Körper anver-

traute, auch der Zahnarzt, die Politiker und der Bundeskanzler, der unser Land regierte,

der Vertreter an der Tür, die Nachbarn, der Busfahrer, der Krämer an der Ecke, kurz, alle

Menschen, die ich sah, hielt ich für weise und gut…

Meine Eltern hielt ich für heilig, auch meine Großeltern. Und natürlich die Priester und

den Papst. Überhaupt, lebte ich in einer Welt voller Heiligen. Alle Erwachsenen, so glaub-

te ich, seien heilig, und ich war davon überzeugt, Kinder seien es nicht. Kinder seien noch

böse, müßten von den heiligen Erwachsenen erst noch erzogen werden. Ja, alles, was ein

Kind tat, hielt ich für schlecht, und alles, was ein Erwachsener tat, für recht!

Natürlich wollte auch ich heilig werden. Als meine jüngere Schwester alt genug war,

lachte sie mich deswegen aus. Aber ich dachte, sie ist halt dumm und klein, versteht so-

was noch nicht… Als wir längst groß waren, lachte sie mich noch mehr aus. Das verstand

ich nicht. Wollte sie nie heilig werden?

Scheinbar war sie innen ganz anders als ich. Auch das verstand ich nicht, sie war doch

meine innig geliebte Schwester!

Früher…

Das ist lange her. Ich war ein Kind.

Heute… bin ich eine Erwachsene, eine Heilige bin ich nicht geworden. Wäre ich es,

würde ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben sein. Meistens sterben sie um die dreißig.

Die Welt tötet ihre Heiligen zuerst und betet sie hinterher an. Will sie zuerst nicht haben,

die Störenfriede des Gewissens. Die Störenfriede aber hat der Himmel geschickt, gehören zu den Sternen, der Ewigkeit an. Warum schickt sie der Himmel auf die Erde? Was haben Heilige hier auf der Erde zu suchen?


Heute? Habe ich meinen Glauben an die heiligen Erwachsenen verloren. Ich kenne

keine Heiligen, nein, es sind meine Augen, die keine mehr sehen. Wahrscheinlich gibt es

gar keine, hat es nie welche gegeben!

Ich weiß nicht, wer hat mir meinen Glauben einge ößt. Wer hat ihn mir gestohlen? Der

Dieb hat sich unbemerkt herangeschlichen und all die Heiligen und Guten mitgenommen.

Es war schön, als sie da waren, es hat gut getan. Sie waren die Nahrung der Hoffnung,

ohne die ich nicht leben wollte.

Hoffnung? Es ist grau geworden, das Leben. Seit Hoffnung und Glaube geraubt wor-

den sind, ist auch der Sinn nicht mehr da, hat mich sitzen gelassen mit seinem bösen Zwil-

lingsbruder der Sinnlosigkeit.

Ich weiß nicht, wann es geschah. Der Dieb kam viele Male, hat keinen scharfen Über-

gang hinterlassen. Auf einmal hatten sich die Erwachsenen in Monster verwandelt. Nein,

nicht auf einmal. Aber was lag dazwischen?


Als eine Nachbarin sich bei meiner Mutter ausheulte, weil ihr Mann eine Andere hatte

und sie und die vier Kinder verlassen wollte, begriff ich: Dieser Ehemann ist kein Heili-

ger! Er muß ein schlechter Mensch sein, wenn er so etwas tut. Dabei sah er sehr gut aus.

Viel besser als mein Vater und noch viel besser als meine Mutter. Die Arme war immer

viel zu dick gewesen und hatte einen traurigen, enttäuschten Blick. Deshalb hielt ich sie

für die Guteste. Die Nachbarin, die jetzt auch eine Arme war, weil sie ja von ihrem Mann

verlassen wurde, sah besser aus als meine Mutter. Das bereitete mir einiges Kopfzerbre-

chen. War sie etwa gar nicht so gut? …sonst würde ihr Mann sie doch nicht verlassen!

Eine Zeitlang funktionierte diese Einteilung in gut und schlecht nach dem Schönheits-

Prinzip. Die Gutaussehenden waren schlecht, die Schlechtaussehenden waren gut. Daß

ich ein hübsches kleines Kind war und mit fünf Jahren auf einmal häßlich wurde, unter-

stützte meine Theorie noch mehr, denn mit fünf bezog ich die ersten elterlichen Schläge.

Dies war auch die Zeit, als ich an ng, mich ernsthaft um das Heiligwerden zu bemühen…

Daß mich mein Vater verprügelte, ließ mich erst als Teenager stutzig werden und an

seiner Heiligkeit zweifeln. Den Mut zu meinen Zweifeln fand ich allerdings erst mit sieb-

zehn, als ich mit meinen Tochterhänden zurückschlagen konnte. Danach schlug er mich

nicht mehr, ich ihn auch nicht.


Als ich noch kleiner war, hat mich auch meine Mutter geschlagen, später hat sie sich

das wohl nicht mehr getraut. Oder hat sie sich gedacht: Der Vater macht das so gut! War-

um soll ich mich anstrengen? So rührte sie keinen Finger mehr und bekam Rheuma und

Gicht davon.

Einmal, ich war gerade in der ersten oder zweiten Klasse, verursachte ihre strafende

Hand, daß Blut aus meiner Nase kam. Es schoß so schnell heraus, daß ich meine zwei

Hände zu einer kleinen Schüssel formte und gebannt beobachtete, wie sie sich mit Blut

füllten…

Ich liebte dieses Blut. Es war mein einziger Freund, mein Verbündeter. Verwirrt starrte

ich es an. Schrecklich und schön zugleich quoll es über den Rand meiner kleinen Finger

und üsterte mir leise zu: Das ist nicht recht!

Daß dies nicht recht war, wußten nur das Blut und mein stummes Ich. Wir waren Au-

ßerirdische, zu Besuch auf einem Planeten der widersprüchlichen Seltsamkeiten. An die-

sem Morgen durfte ich nicht zur Schule gehen; meine Mutter tat so, als sei ich krank. Ihre

Sorge dauerte solange, bis das Blut gestoppt war, dann tat sie so, als sei ich ein böses Kind

und sie die arme geplagte gute unschuldige Mutter. Ach ja… Vielleicht habe ich sie sogar

getröstet? Jedenfalls hat mein sprechendes Ich nicht an ihrer Gutheit gezweifelt, trotz all

dem Blut aus meiner Nase. Sie auch nicht. Sie tat mir leid. Ich tat mir auch leid. Meine

Hände waren leer und sauber. Das Blut war nun im Ab uß, nirgendwo zu sehen. Mein

einziger Freund nicht mehr in meinen Händen…


Heute bin ich erwachsen. Ich bin nicht heilig geworden, sonst wäre ich längst tot.

Wahrscheinlich liebe ich das Leben zu sehr! Manchmal begreife ich gar nicht, warum…

Lange habe ich an der Gutheit der Mutter und ihrer Unschuld nicht gezweifelt, dafür

den Vater mit seinen schlagenden Händen zum Bösewicht erklärt, er war eindeutig der

Täter!

Heute bin ich alt, nein, noch nicht so alt, daß ich bald sterben muß, obwohl, es kann

täglich so weit sein, man weiß das nie. Sogar Kinder können sterben, auch solche, die

nicht einmal geboren sind. Daß meine Mutter keine Heilige ist, habe ich erst kürzlich be-

griffen. Es tat so weh, daß mein Kind starb, obwohl es noch nicht geboren war.

Seitdem habe ich alles verloren, sogar meinen Glauben, daß Gott ein Heiliger ist.

…Bin ich jetzt frei?

Frei von was?

Jetzt übe ich, ein schlechter Mensch zu sein, von Heiligen will ich nichts mehr wissen.

Es macht keinen Spaß, bestimmt nicht, aber es ist weniger enttäuschend und hält mich am

Leben…

Und leben will ich!

Ich bin nicht frei. Ob weniger denn je, das weiß ich nicht. Eigentlich habe ich darüber

nie nachgedacht, früher. Natürlich war ich frei, darin hatte ich keine Zweifel, früher.

Heute weiß ich, daß ich es nicht bin - frei! Ein unermüdliches Sehnen in meinem In-

nern plagt mich jeden Tag, den Glauben wieder zu nden. Doch, wo ist es, an was ich

glauben kann?


»Hallo! Ist da wer?«

Wielange kommt kein Echo zurück…

So bin ich eine Reisende geworden, durchstreifte alle Länder dieser Erde. Eine Antwort

habe ich nicht mitgebracht. Als Fremde kam ich zurück.

Nun wandere ich durch die Welt, ohne mein Haus zu verlassen, durchstreife als Hei-

matlose an allen Orten die schwindende Zeit, die mir verbleibt, mit jedem meiner Schritte

dahingeschmolzen. Wie lange noch, verbleibende Zeit, verschlungen von der Suche nach

dem Numinosen, an das ich wieder glauben will…


Heute


Heute? Hat nun diese Fremde das Große Etwas gefunden, woran sie wieder glauben

kann?

Sie lächelt, aber man kann es noch nicht sehen, sie ist noch weit weg, geht in der Ferne

langsam auf uns zu.

»Ich habe die Urmutter gefunden!« ruft sie von weitem und winkt, »Sie ist meine Mut-

ter! Mein Glaube…«

Dann ist sie auf einmal da und erzählt:

»Nur zögernd habe ich mich der Mutter genähert, bis sie schließlich mir entgegenkam.

Engel begleiteten mich; ich habe auch andere davon sprechen hören und glaube ihnen erst

jetzt. Aber es ist nicht zu spät gewesen, ich kam in der rechten Zeit an den Ort, wo ich die

Engel erkannte. Sie haben mir Mut gegeben, dem Verborgenen zu vertrauen. Deshalb

weiß ich heute, daß immer verborgen bleiben wird, was dem Verborgenen angehört. Es ist mein Glaube…«


Heute sitze ich zu Füßen der Mutter und lausche. Sie ist weise. Ihr neige ich meinen

Kopf zur Begrüßung unter ihre Sohlen, denn von ihr erfahre ich das Geheimnis des Le-

bens.

»Das Leben braucht seinen angemessenen Raum, um sich zu entfalten,« sagt sie mit

wissender Strenge, »…alles, was lebendig ist und bleiben soll, braucht Platz. Sicherheit ist

wichtig, um Leben zu erhalten, Gleichtgewicht vor allem für den Frieden…«

So spricht die Mutter zu mir. In allen Fragen schenkt sie mir ihr Ohr. Sie kennt die Tü-

cken und Fallen auf dieser Erde, weiß, was den Menschen schwächt. Und sie weiß, was

ihn glücklich macht, denn sie kennt das Gesetz der Seele, die die Urmutter aller Mütter ist.

Wir sind die Töchter. Mit ihrer geistigen Kraft machen wir aus unseren eigenen Töchtern

starke Frauen für morgen.

»Die Frauen sind es, die der Zukunft den Frieden bauen!« so spricht die Mutter aller

Mütter und ihre Töchter hören zu. Sie verstehen, es sind nicht die manngemachten, nein,

sondern jene Frauen, die die Frauen machten, nur sie reichen schützend ihre Hände in die Welt.

Heute sehe ich die Gefahr. Das Wissen der Mutter ist aus uns Frauen herausgesi-ckert,

die Männer bestimmen nun, wie sie die Frauen haben wollen. Dienerin soll sie sein und

funktional, aber auf keinen Fall ein mächtiges Gegenüber. Und damit sie ahnungslos zu-

stimmt und bloß nichts merkt von dem Betrug, darf sie sich (pseudo-) emanzipieren. Sie

darf die gleiche Kleidung tragen wie der Mann, die gleiche Arbeit tun und noch viel mehr:

danach auch noch den Haushalt übernehmen!

Ja, so sieht man die moderne Frau gern: Leistungsfähig. Leistungsfähiger als der

Mann. Was man ihr alles au aden kann! Dafür hat sie keine Lust mehr ihre Kinder zu stil-


len, und wenn, dann bitte nur die ersten Wochen. Sie ist genervt und karrieregeil, genauso

wie der Mann, und hat keine Einwände, für ihre Ziele doppelt soviel Einsatz zu erbrin-

gen… So sieht die moderne Frau von heute aus, nichtwissendes Produkt des Mannes.

Die Verbindung zu unserer Ahnenmutter ist nur ein seidener Faden! Doch solange wir

wenigstens von ihr reden, ist er noch nicht abgerissen. Reden wir von ihr und fangen an,

den Ahnenmüttern zuzuhören, erinnern wir uns und beginnen wieder mit ihnen zu spre-

chen… Frauen! Erinnert euch und ndet die Mutter, unsere Mutter!

Sie wollen wir ehren, von ihr das Leben lernen.


»…solange noch das Gras wächst…« sagt die alte Todafrau, als sie über Mutter Erde

spricht, und geht wissend von dannen…

Solange noch das Gras wächst! denke ich und überlege.

Solange noch das Gras wächst… und meine nackten Sohlen es unter sich spüren kön-

nen.


Morgen…


Morgen?

»Wenn etwas ursprünglich wahr ist, dann ist es auch morgen wahr!« sagt die Frau, die

ihre Mutter fand.

»Ja, wenn die Seele an morgen denkt, dann sieht sie die Verschmelzung mit dem, was

wahr ist.« antwortet ihre Schwester.

Es gibt nicht mehr viele Frauen, die ihre Mutter nden und ihre Schwestern.

»Solange es noch eine Seele im Menschen gibt, brauchen wir uns nicht allzu sehr kra-

men.« sagt die Tochter, die der Mutter noch mißtraut, »Ist dann auch keine Seele mehr im

Menschen, kann uns die Menschheit ohnehin egal sein. Was soll noch ein Mensch ohne

Seele? Die hat nämlich einen anderen Ort für ihre Verwirklichung gefunden…«

»Es ist wahr, denn die Seele ist unsterblich.« erwidert die Mutter, »Doch denke an das

Leben, das die Urmutter unter den Schutz der Frauen stellt! Unsere Aufgabe ist das Le-

ben. Die Frauen haben die Kraft und das Wissen, in die geistige Verbindung mit der Ur-

mutter zu treten und mit ihr zu sprechen. Die Männer müssen i h r e geistigen Kräfte p e-

gen. Wir Frauen kümmern uns um unsere Verantwortung!«

»Vielleicht wird bei unseren Enkeln das Menschsein enden? Nach heutigem Stand be-

trachtet, gar nicht so undenklich!« schreiben die letzten Zweifel auf das Papier, »Und be-

stimmt ist es nicht übertrieben, den endgültigen Rückzug der Seele aus dem menschlichen

Körper in die übernächste Generationen zu legen. Ein Wesen treibt sein Unwesen! Es sieht

aus wie ein Mensch, dem aber jeglicher Geist entwichen ist, der nur noch raubt und mor-

det, so wie es seinem seelenlosen Sinn entspricht. Hier wird dann bestimmt niemand

mehr an das Verborgene glauben, das so viel übermächtiger ist…


Gestern…


Gestern war ein trauriger Tag. Nein, nicht der Tag war traurig, ich war traurig. Am

Morgen wachte ich auf und Traurigkeit emp ng mich in jeder Ecke. Ich hatte einen trauri-

gen Traum gesehen.

In Kerala sagt man nicht träumen, sondern einen Traum sehen.

»Sopnam candu?«

Hast du einen Traum gesehen?

Amaji lacht mich jedesmal aus, wenn ich sie beim Morgentee frage, ob sie einen Traum

gesehen hat.

»Sopnam candilla!« antwortet sie dann und blickt mich von der Seite amüsiert an. Sie

hat keinen Traum gesehen!

Vielleicht ist es auch besser so.

…Gestern war kein guter Tag. Da hat mich der Schlaf in den Tag geworfen, den Traum

noch im Gesicht. Der Traum war traurig. Deshalb erwachte ich traurig. Die Erinnerung an

den Traum machte mich traurig. Der Traum ist mächtig, genauso wirklich wie die Dinge

am Tag gebiert ihn die Nacht…

Es gibt auch schöne Träume, nicht nur häßliche; auch lustige und solche, die mir die

richtigen Entscheidungen zeigen. Viele wichtige Entscheidungen verlangt das Leben dem

Menschen ab, es ist praktisch, wenn er im Traum die Antwort sehen kann. Ganz selten je-

doch geschieht es, daß ich morgens mit einem Traum erwache, mit dem ich überhaupt

nichts anfangen kann. Was hat er mit mir zu tun, überlege ich und bin enttäuscht, weil ich

seine Sprache nicht verstehen kann. Seine Botschaft ist an mich vergeudet…

Einmal, als es mir genauso erging, ich mich also fragte: Was hat dieser Traum mit mir

zu tun? sah ich zwei Wochen später die Bilder aus dem Traum im Fernsehen wieder. In

den Sondernachrichten! Eine Katastrophe… Fassungslos bin ich, was meine Augen da se-

hen, und noch vielmehr, weil es die Bilder meines Traumes sind… Was für ein trauriger

Traum?

Dennoch hat mir jener Traum keinen traurigen Tag gemacht, zwei Wochen zuvor, als

ich aus ihm erwachte… Muß ich deshalb den Traum im Fernsehen noch einmal sehen?

Am 11.September!

Dies ist mein berühmtester Traum, nur, kaum einer weiß es. Die ganze Welt hat meinen

Traum im Fernsehen gesehen, ich allein habe ihn auch in mir drinnen gesehen. Mein

Traum wird nun in die Geschichte eingehen als 11.September, doch niemals wird mein

Name daneben stehen und niemals, wann ich ihn geträumt hatte, zwei Wochen zuvor im

August.

Alptraum 11.September! Die Menschen meinen, dies sei bereits die Katastrophe, und

rüsten lautstark für die Vernichtung der Katastrophe. Sie haben eindeutige Erklärungen

für die Katastrophe, diskutieren eifrig über Benennung und das, was sie Fakten nennen,


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kennen keine Zweifel, wer schuld ist an der Katastrophe… Während sie an den Strategien

tüfteln, weil sie meinen, den Teufel ganz genau zu kennen, weiß ich, daß sie erst noch

kommen wird, die Katastrophe. Die Stimme im Traum hat es mir zuge üstert. Und sie hat

auch gesagt, daß ich die einzige sei, die sieht, was hier geschieht…

Jetzt sitze ich da mit diesem Wissen… was kann ich tun? Ich kann es auf dieses Papier

schreiben, was ich soeben tue, ich kann es laut lesen, was ich soeben tue… aber egal, was

ich tue, es werden nicht viele sein, die zuhören… Zeichen der Zeit! Es ist schon immer so

gewesen, daß die Menschen mit großem Gejohle in ihr eigenes Unglück fahren. Sie johlen,

weil sie ahnungslos sind. Sie johlen, damit sie die Angst übertönen, die sie ahnungslos

schwitzen. Wüßten sie von ihrer Angst, wüßten sie, wohin sie fahren… wüßten sie, was

sie tun… wüßten sie all das, sie würden nicht johlen, sondern stumm sein und nachden-

ken. Ihre Angst könnten sie in ihrem Traum gesehen haben… in einem anderen das Ziel

ihrer Fahrt… der Grund ihres Tuns… all das könnten sie wissen, wenn sie träumen und

sich daran erinnern.

Ich denke schon lange darüber nach. Warum sollte ich als einzige die Katastrophe se-

hen? Nicht ‘eine‘, sondern ‘die‘ Katastrophe. Die Stimme hat mir auch den Fluchtweg ver-

raten, aber den Ort kenne ich noch nicht… Jetzt warte ich auf den genauen Lageplan…

seit über einem Jahr warte ich. Aber so ist das mit dem Traum, er hat seine eigene Logik

und vor allem sein eigenes Tempo. Wahrscheinlich hat er mir bereits Puzzleteile des

Fluchtplans zukommen lassen und ich habe sie nicht erkannt. Und am Ende gestaltet sich

das Zusammensetzen und Verstehen dieses Lageplans des Fluchtortes wie das Finden

und Entschlüsseln einer geheimen Karte über einen verborgenen Schatz…


Ich sehe sie alle, diese Träume, die guten und die schlechten, solche und solche. Mit

ihnen wache ich auf, ob ich zustimme oder nicht. Ich weiß, warum der große Rest der

Menschheit seine Träume schnell wieder vergißt, frühestens beim Erwachen oder spätes-

tens wenige Augenblicke danach, oder eben gleich gar nie erinnert. Es ist riskant, sich an

Träume zu erinnern. Manche können einem den ganzen Tag verderben!

Längst weiß ich, warum. In der Nacht zeigen sie einem, was wahr ist!

Ja, lieber sieht man fern, schaut sich den Alptraum draußen an, außerhalb einem selbst,

eben in der Ferne. Fernsehen! Ironie der Wahrheit! Die Menschen sehen lieber fern als

nah… lieber fern als hinein…

…In die Ferne sehen, anstatt in sich selbst hinein. Wie würde das klingen: Fragt einer

den anderen, was er am Abend so macht, sagt der eine: ‘Ich sehe fern!‘ und der andere

sagt: ‘Ich sehe hinein!‘

Zum Hineinsehen braucht man nur die Augen zu schließen, zum Fernsehen einen

Hilfsapparat, den Fernseher. Dort und auch im Kino heißen die Alpträume dann Horror-

lme oder Thriller, es gibt auch Katastrophen lme! Die menschgemachten Spezialeffekte


des Grauens ziehen die Massen magisch an, dabei könnten sie im Traum den besten Thril-

ler ihres Lebens sehen: die Wahrhei! Und das bei freiem Eintritt und ohne 3-D-Brille…

Aber lieber sehen sie fern, die modernen Menschen…

…In die Ferne sehen, anstatt in sich selbst hinein.


Es scheint wie verdreht zu sein. Am Tag, wo es hell ist, glaubt man, alles sehen zu kön-

nen, und in der Nacht, wo es dunkel ist, meint man, nichts zu sehen. ‘Weil dann doch die

Augen geschlossen sind und man schläft‘! so heißt es. In Wirklichkeit ist es umgekehrt.

Will einer die Wahrheit wissen, muß er die Augen schließen und in die Träume blicken.

Die Wahrheit liebt das Versteck, das die Nacht der Dinge ist… die Rückseite, die erst zu

sehen ist, wenn das ‘Ding‘ umgedreht wird…

Natürlich würden alle behaupten, die Wahrheit wissen zu wollen, genauso, daß sie

selbst ehrlich seien! Aber warum erinnern sie sich dann nicht mehr an ihre Träume? Wol-

len sie die ganze Wahrheit doch nicht wissen? Sind mit der halben zufrieden, die auch

nicht allzu schonungslos mit einem umgeht…

Ich weiß dies seit langem. Im Traum lauert die ganze Wahrheit auf das schlafende We-

sen, das dann in Wirklichkeit wach ist. Wer könnte nicht das gleiche sagen, der mit der

Wahrheit Bekanntschaft macht? Mit dieser schonungslosen Göttin! Sie ist eine Göttin, weil

unsterblich. Die Alten Ägypter waren recht vertraut mit ihr, nannten sie die Maat…

Ja, ja, die Göttin der Wahrheit lauert einem schonungslos auf, denn sie weiß sich zu

kostümieren. So gräbt sie tiefe Spuren in uns hinein, tiefer und tiefer, je mehr wir uns wei-

gern, ihr, der Göttin der Wahrheit, die Lüge zu opfern.

Wie oft befragte ich die Bilder, die mir die Nacht ins Bewußtsein rieselt, bettelte und

ehte, damit sie sich meinen Gefühlen zur Antwort geben.

Da spielen Personen mit, die man fast nicht kennt, in Situationen, die beinahe fremd,

wiederkehrend ins Bewußtsein zirkulieren und dann die ganze Lebensfreude wie eine bil-

lige Illusion an die Wände schmieren. Nein, Beschämung ist hier nicht zu kriegen, es sind

nur Tränen, die hier ießen. Sie kommen ohne Grund und Sinn, so scheint es. Viel später

dann hilft die Erinnerung, genau dort zu suchen, dort wo die Quelle nicht versiegen kann

vor Schmerz…

Und manchmal zu schlimmer Neugier verführt, will ich gar wissen, wo ich jetzt wär,

ohne sie, die Bilder der Nacht, meine Lehrer, meine Meisterinnen! Oh Traum, du weise

Führerin, deine Augen haben alles gesehen, deine Seele alles erlebt, dein Mund mit allen

Göttern gesprochen, dein Herz in allen Körpern geblutet… der universellen Sprache

mächtig, sprichst du zu jedem, der schläft, zu allen. Auch ein Außeridischer kann dich

verstehen und jeder, der auf der Erde gelebt. Nur eine Spezies versteht sie nicht mehr, die universelle Sprache, die noch jedes Neugeborene kennt: Es ist der moderne Mensch! Da- bei bildet er sich ein, die fortschrittlichste Epoche aller Zeiten zu sein! Was für ein armer Irrer ist er …


‘Warum ist es so weit gekommen?‘ fragt so mancheiner, der gerade erwacht. Haben

wir die Traumsprache verlernt?

‘Wer soll im Traum schon zu uns sprechen?‘ spotten andere. Wie altmodisch wir das

heute nden! Die Sprache der Seele? Ja, aber nur in teuren Workshops und Seminaren, bit-

te schön bloß nicht im richtigen Leben! Wer glaubt daran schon in der Praxis? Ich meine,

so wirklich, daß er sein Leben dafür geben würde? Na bitte, niemand hebt seine Hände,

nur der, den man eingeliefert hat. Alles mehr oder weniger Zeitvertreib! Und manche ver-

dienen sich gar eine goldene Nase mit dem kleinen O am Ende, die sie dann hoch über

alle anderen Nasen halten, weil sie meinen, sie seien jetzt erleuchtet oder zumindest kurz

davor. Ein bißchen Eso, ein bißchen Psycho und viel Öko und dabei das Ego und den Euro

nicht aus dem Auge verlieren, schütteln und fertig ist die moderne Mix-Tour.

Was mache ich hier? Ich bin eine Träumerin, eine Kastenlose der modernen Gesell-

schaft, denn Träume sind alt und ewig gültig. Natürlich wissen die Modernen das nicht.

Ich kann einfach nicht modern sein, nicht mehr, denn ich war es vor langer Zeit… jetzt

weigere ich mich zu modern. Ha, wie schön mit diesem Wort zu spielen. Niemand weiß es

von diesen modernen Leuten! Das, was sie heute für so modern halten, fängt bereits mor-

gen früh an zu modern. Moderne Objekte sind dem Prozeß des Moderns unterworfen,

sind also modernde Objekte, geschaffen für den schnellen Abtransport in den Abfalleimer,

die baldige Reise auf den Müllberg… Die hochgerühmte Moderne Kunst sollte demnach

besser ‘Modernde Kunst‘ heißen, das Neue Haus der Morderne lieber ‘Haus des

Moderns‘… Es wäre einfach richtiger! Man stelle sich nur einen Zeitsprung von tausend

Jahren in die Zukunft vor?! Was ist dann noch übrig von den Installationen der Modernen

Kunst und Orte? Wie die Menschheit der Zukunft das, was noch übrig ist, wenn über-

haupt noch etwas davon übrig ist, interpretieren wird, bleibt unserer Phantasie überlas-

sen. Jedenfalls wird sie sich über das kulturelle Loch wundern, da um viele tausend Jahre

ältere Kunst und Bauwerke noch stehen werden und auch unsere Zeit überragen…

Das moderne Modern hat alle verhext, seelenlose Geschöpfe…

Ich bin nicht modern, will es gar nicht sein, stelle weiterhin meine altmodischen Fra-

gen… und hier springt eine kleine sprachliche Wahrheit heraus, es ist nicht möglich ‘alt-

modern‘ zu sagen…

Seelenlos… Geht das überhaupt?

Hat nicht die uralte Baba gesagt, die Seele sei der Hauch der Götter?

»…wenn ein Mensch geboren wird, braucht er eine Seele, sonst kann er nicht leben…«

So sprach die uralte Baba. Wer sie nicht kennt, ist schlimm dran, denn der weiß gar nichts.

Über sie sei an dieser Stelle nur soviel gesagt: Sie stammt aus dem Alten Ägypten und

kann in alle Zeiträume hineinblicken… Indem sie in sich hinein blickt, kann sie in die Fer-

ne sehen… einen Fernseher hat sie nie gekannt und auch nicht gebraucht…


Warum glauben wir unseren Ahnen nichts mehr? Sind sie nicht älter als wir? Sie haben

doch lange vor uns gelebt! Sind also viel näher dran an unserer Herkunft… an unseren

Wurzeln…

Halten wir uns für soviel gescheiter als die alten Ägypter oder die alten Maya?

Unsere Herkunft…? Ach ja, irgendwie scheint uns die Herkunft nicht mehr zu interes-

sieren. Warum eigentlich? Wir nden Ahnen und Götter albern, spotten über sie, nennen

solchen Kinderglauben naiv, ja, meinen, viel klüger zu sein, weil wir in die Zukunft bli-

cken…

Wenn also dieser göttliche Hauch in uns ist, aber wegen unserem Hochmut nicht zu

uns sprechen kann, sind wir dann nicht folglich von unserer Heimat abgeschnitten? Wir

wissen nichts von ihr! Und manch einer hat es noch im Ohr: Heimatlosigkeit bedeutet

Schmerz!

Würden wir unseren Verlust erkennen, könnten wir begreifen, warum unsere Welt so

kaputt ist: Weil sie voller Lügen ist! Abgeschnitten vom Quell des Ursprungs, können wir

nur noch Falsches tun…

Und dann träumen wir… sehen einen Traum, der uns das Falsche zeigt und dahinter

die einzig wahre Lösung…

Beginnen wir also wieder zu träumen! Lernen wir, dem Traum die Hälfte unseres Wil-

lens zurückzugeben! Diese Hälfte gehört nämlich ihm, schon seit uralter Zeit!

Und üben wir Geduld, die Stimme der Ahnen in unserem Traum zu hören, und lau-

schen dann, was sie uns sagt…

Die hochwürdige uralte Baba spricht schon lange in meine Träume hinein. Zuerst woll-

te ich ihr nicht glauben, so wie ein moderner Mensch nun mal nichts glaubt, was sich

nicht anfassen und beweisen läßt… Da zwang mich das Leben zu glauben, nun weiß ich.

Baba sagt, nur im Traum sei die Lösung für die Menschheit zu nden… nur im

Traum… alle Lösungen… für alle Menschen! Dort nur erfahren wir die Wahrheit, sagt sie,

das ist die Wahrheit! Die Ewig-Gültige, die göttliche Maat, das Gesetz… vom Ego soo eif-

rig bekämpft. Es will seine eigene Wahrheit haben und gestalten, nach seinem Willen seine

eigene Welt einrichten, sieht nicht das übermachtige Gesetz der Wahrheit von Göttin-Mut-

ter und Gott-Vater. Warum, ist mir immer weniger klar… denn am Ende müssen wir ja

doch alle zurück, heim an den Ort, der uns hervorgebracht hat…


 

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