Kakerlaken und Ratten
- Sylvie Bantle
- 21. März
- 14 Min. Lesezeit

»Merkwürdige Dinge gehen vor …« flüsterte die alte Dame mir gegenüber.
Sie hat einen Fensterplatz wie ich.
»Welche Dinge meinen Sie?« fragte ich gedankenverloren, bisher hatten
wir noch kein Wort miteinander gewechselt.
Sie blickte mich mit durchdringenden Augen lange an, in ihrem Blick die-
ses wissende Element, das meinen Verstand verlachte wie der Narr den Kö-
nig. Ich stürzte vom Sicherheitsgerüst geradewegs in ihre Hände.
»Diese Dinge sieht man nicht, nicht so leicht …« antwortete sie, »für den
einen sind sie sichtbar, für den anderen sind sie unsichtbar!«
Dann schwieg sie geheimnisvoll. Ich wagte nicht, etwas zu sagen. In der
Luft stand geschrieben, ich solle warten und lauschen. Beinahe lautlos hielt
der Zug. Gemäßigte Unruhe entstand. Einige Passagiere hatten sich bereits
erhoben, nahmen jetzt stumm und blicklos ihre Jacken und Rollköfferchen
von Haken und Ablage, bewegten sich langsam zum Ausgang und stiegen
aus. Alles vollzog sich schweigend. Niemand sprach. Jeder schien seinen
Bestimmungsort genau zu kennen. Von draußen das Echo der Bahnhofs-
stimme, die Richtungen und Ziele verkündete, ohne Sehnsucht zu wecken.
Nach einer Minute schlossen sich die Türen automatisch wieder und ge-
räuschlos setzte sich der Zug in Bewegung. Ich war verwirrt. Die Bewegung
war nicht zu fühlen, sondern nur mit den Augen wahrnehmbar, weil ich aus
dem Fenster schaute und die Landschaft sich zu bewegen begann.
Die Frau gegenüber lächelte. Sie war nicht jung, aber auch nicht alt. Sie
lächelte mich an. Ich fühlte mich beobachtet, von ihrem Blick untersucht, ihr
ausgeliefert. Sie wirkte sehr freundlich. Sie war zeitlos gekleidet. Beängsti-
gend zeitlos – ich konnte sie nicht einordnen. Sie besaß eine angeborene
Eleganz, die jedem Kleidungstück Ansehnlichkeit verlieh. Aber unter ihrer hel-
len Haut berstete Wildheit. Ich mußte an Kali denken, die indische Göttin, die
eine lange Kette aus Totenschädeln um ihren Hals trägt und böse Geister be-
kämpft. Ich fühlte mich wie bei der schwarzen Göttin eher beschützt als be-
droht.
Die Unbekannte schaute abwechselnd aus dem Fenster und zu mir. In ih-
rem Lächeln lag plötzlich etwas, als wüßte sie genau, was ich denke. Ich lä-
chelte zurück, ergab mich und nießte. Ihr musternder Blick zwang mich, et-
was zu sagen.
»Ich nieße oft!« sagte ich wie zur Entschuldigung und mußte gleich noch
einmal nießen. Dann noch einmal.
Bestimmt dachte sie, ich sei Allergiker, überlegte ich. Ich war aber nicht
allergisch, nicht wirklich.
Sie beugte sich vor und fragte:
»Kennen Sie die Gemeinsamkeit von Kakerlaken und Ratten?«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
»Sie passen sich allen Gegebenheiten an!« erklärte sie, »Man könnte sie
auf dem Mond aussetzen und sie würden überleben. Dreck, Bakterien, Kata-
strophen, Nahrungsmangel? Das kann einer Kakerlake und einer Ratte nichts
anhaben. Blitzschnell können sie sich jeglichen Mißständen anpassen. Sie
sind die Schmutznießer unserer Gesellschaft…«
Verwirrt hörte ich zu.
»Kennen Sie die Gemeinsamkeit von Kakerlaken, Ratten und
Menschen?«
Verwirrt starrte ich sie an.
»Sie passen sich an!« beantwortete sie die Frage selbst und lachte wie
über etwas außerordentlich Komisches, »Schauen Sie sich doch nur um! Ha-
ben Sie den Mut zu sehen, was vor sich geht! Hier sitzen wir in einem Zug
der Neuzeit und bilden uns ein, besonders modern und frei zu sein. Aber was
sehe ich in Wirklichkeit? Die Fahrgäste müssen in einer luftdichten Tube sit-
zen! Damit sie nicht ersticken, werden sie von unsichtbaren Maschinen mit
warmer Luft versorgt, aber eben gerade soviel, damit sie nicht ersticken. Wie
schlecht die Luft ist, merken sie schon gar nicht mehr, nur wenige Körper re-
agieren mit Protest und nießen…«
Sie blickte sich um, wie um mir zu zeigen, was ich sehen soll. Dann fuhr
sie mit leiser Stimme fort:
»Der moderne Mensch ist gezwungen, sich das Bedürfnis und die Freiheit
abzugewöhnen, das Fenster öffnen zu wollen, wenn ihm danach ist - weil er
es nicht mehr kann! Er hat gar keine andere Wahl. Er muß sich daran ge-
wöhnen und sich anpassen, daß er nichts tun kann, wenn ihm zu heiß oder
zu kalt ist. Weil er sich wohlfühlen will, muß er sich also an sein Gefängnis
anpassen. Der einzige Unterschied zwischen Kakerlaken und Ratten zu den
Menschen ist der, daß der Mensch denken kann. Damit er daher auf keine
dummen Gedanken kommt, während ungefragte Bedürfnisse in ihm hoch-
steigen, läßt er sich dahingehend manipulieren, alles toll zu finden, was man
ihm als neu und modern verabreicht. Er stellt dann keine unangenehmen
Fragen, was eigentlich der Fortschritt an einem neuen Zug sein soll, wenn er
nicht einmal sein Grundbedürfnis nach frischer Luft stillen kann…«
Sie hat recht! dachte ich erschrocken und erinnerte mich an einen Zwi-
schenfall vor vielen Jahren. Während der Fahrt war der Zug auf freier Strecke
wegen Motorschadens plötzlich stehengeblieben. Lange Zeit ließen sich die
Türen nicht öffnen und ein Schaffner ging durch die vollbesetzten Wagen, um
die schmalen Notfenster an beiden Enden der Waggons zu kippen. Es war
Sommer und die brachliegende Klimaanlage hatte sofort unerträgliche
Schwüle zur Folge. Der winzige gekippte Fensterschlitz kam gegen das
Schwitzen der Menschen nicht an. Die Durchsage aus den Lautsprechern
sollte die Passagiere beruhigen und aufmuntern, da man ja bemüht sei, die
Türen so schnell wie möglich zu öffnen. Bei den Erwachsenen tat das be-
schönigende Blabla seine beabsichtigte Wirkung, nicht aber bei meinem vier-
jährigen Patensohn, der zu stöhnen begann und dann mit leidender Miene
sagte:
»Oh, ich glaube ich ersticke!«
Ich bemerkte nicht, wie die Erinnerung meine Mundwinkel zum Schmun-
zeln formte. Erst als die Unbekannte mich wieder ansprach, kehrte ich in die
Gegenwart zurück.
»Was belustigt Sie?« fragte sie interessiert.
»Ich habe mich an etwas erinnert.« antwortete ich.
Die Unbekannte lehnte sich mit einem Seufzer zurück und schaute in die
vorbeiflitzende Landschaft hinaus. Die Sonne knallte geballte Energie von ei-
nem blitzblauen Himmel herab, die Scheibe wirkte wie ein Brennglas. Auf
einmal überkam mich der dringende Impuls, das Fenster aufzuziehen und die
vorbeiflitzende Luft ins Gesicht wehen zu lassen. Unwillkürlich musterte ich
das Fenster. Nirgendwo war ein Griff angebracht. Das Glas in den großen
Metallrahmen war mit breiten Gummirändern luftdicht eingeschweißt. Aus
dem schmalen Gitterrost darunter strömte nur dürftig ein bißchen Luft hervor.
Die Luft war tot. Sie roch nach nichts. Ich lehnte mich zurück und schaute
weiter in die vorbeiflitzende Landschaft, die nicht einmal ein Traum war. Denn
hätte ich sie geträumt, wäre sie echt gewesen und ihre Frische hätte auch
meine Nase erreicht.
Lichtloses Dunkel stülpte sich über uns, der Zug durchfuhr einen Tunnel.
Da traf mein Blick in der reflektierenden Scheibe auf die Augen der Unbe-
kannten. Lange sahen wir uns an.
»Was ist vom Reisen noch geblieben?« fragte sie mich aus der reflektie-
renden Fensterscheibe heraus, »Die Menschen sind Kakerlaken und Ratten
geworden, haben sich angepaßt, scheinen nichts zu vermissen…«
Wir betrachteten die Augen unserer Spiegelgesichter. Nur die Augen konn-
ten erfassen, daß die luftdichte Tube gerade durch einen Tunnel flitzte, die
anderen Sinnesorgane blieben ungefragt, fingen an sich zu langweilen. Ja,
dachte ich, die Monotonie der immergleichen Reize von Temperatur und Ge-
ruch veranlassen den Rest des Empfindens, träge und müde zu werden. Es
lohnt sich nicht mehr aufzuwachen!
Ein Hauch von Panik legte sich auf meine Brust. Ich bewegte mich nicht.
Wie eingefroren, als würde dies alles nicht wahr sein, lehnte ich im gepolster-
ten Sitz, der dennoch nicht bequem war.
»Ja…« sagte ich zu dem zeitlosen Gesicht im Glas und vergaß weiterzu-
sprechen.
Schnell wachsende Dämmerung kündigte Helligkeit an, die sich mit glei-
ßendem Licht auf die Fenster schmiß und unsere Spiegelbilder wegriß.
Ich hörte die Unbekannte gegenüber in ihrer Handtasche kramen; ein Etui
schnappte auf und zu, dann lehnte sie sich wieder zurück. Ich schaute nicht
hin, mein Blick war noch eingefroren. Doch dort, wo im Tunnel das Gesicht in
der Scheibe gewesen war, wanderte jetzt die Landschaft entlang. Je näher
sie mit ihren Böschungen und Bäumen an die Gleise heran rückte, desto
schneller flitzten die Dinge vorbei. Je weiter Hügel, Bäume und Felder sich
entfernten, desto langsamer zogen sie am Fenster vorüber und umso mehr
konnte ich sehen… Lange blickte ich nur auf diesen einen Punkt und dachte
nicht daran, mich zu lösen.
Irgendwo hinter mir spürte ich Bewegung aufkommen. Unmittelbar drehte
ich mich um und sah den Schaffner die Fahrkarten kontrollieren. Es würde
noch eine Weile dauern, bis er meine Reihe erreichte, dachte ich antriebslos.
Ich war noch nicht in der Stimmung, meine Hände zu bewegen, um das Ti-
cket hervorzuholen. Die überheizte schlechte Luft machte mich schwer; mei-
ne Hände waren geschwollen, ein Gewicht drückte von meiner Stirn auf die
Augenlider. Die Poren meiner Haut hatten dicht gemacht, jetzt war ich in mir
selbst eingesperrt und mußte langsam ersticken…
Die Unbekannte schaute aus dem Fenster. Jetzt erst bemerkte ich, daß sie
eine Zigeratte zwischen ihren Fingern hielt, die nicht angezündet war.
Manchmal führte sie die Zigarette zu ihrem Mund und zog daran. Es verwun-
derte mich, weil die Zigarette ja gar nicht brannte. Dann fiel mir ein, daß wir
im ‘Nichtraucher‘ saßen. Schließlich stand der Schaffner vor unserer Reihe.
»Die Fahrkarten bitte!« sagte er mit freundlicher Automaten-Stimme. Da
entdeckte er die Zigarette zwischen den Fingern der Unbekannten und seine
Freundlichkeit schlug um in Strenge:
»Dies hier ist das Nichtraucher-Abteil!« sagte er in belehrendem Ton, da-
bei hätte er ihr Sohn sein können.
»Ja, ich weiß!« antwortete die Unbekannte mit Schalk im Gesicht und
Freundlichkeit in der Stimme, zog dann kräftig an der Zigarette und fragte mit
scheinheiliger Miene:
»Wer raucht hier?«
»…Ihre Zigarette!« erwiderte der Schaffner und seine Automatenstimme
fing an zu stolpern.
»Achso! Das irritiert Sie!« lachte die Unbekannte und schaute wie verblüfft
auf ihre Zigarette, »Wissen Sie, so schmeckt die Luft ein wenig besser!«
Der Schaffner blickte nicht mehr freundlich drein. Sein Automat hatte sich
wegen Überlastung automatisch auf das Basisprogramm heruntergeschaltet.
Er kann nichts dagegen tun, dachte ich, als er pflichtgetreu die Fahrkarten
abknipste, er ist halt in seiner Schaffner-Uniform gefangen! Immer noch bes-
ser, überlegte ich weiter, denn ich bin in meiner eigenen Haut gefangen! Ich
werde zuerst ersticken, nicht er…
»Ach, wären Sie so freundlich und halten meine Zigarette?« bat mich die
Unbekannte, nachdem der Schaffner weitergegangen war.
Gedankenverloren nickte ich.
»Ich gehe zur Toilette, ein bißchen Luft schnappen!« erklärte sie mit einem
verschwörerischen Zwinkern und überreichte mir die Zigarette wie einen ma-
gischen Zauberstab. Nun hielt ich die Zigarette zwischen meinen Fingern,
aber daran zu ziehen, obwohl sie nicht brannte, erschien mir doch etwas
sonderbar.
Kaum war sie verschwunden, kam aus der entgegengesetzten Richtung
ein anderer Schaffner vorbei. Mit seinem durchdringenden Schaffnerblick für
alles, was nicht die Regeln erfüllte, erkannte er sofort die Unstimmigkeit.
Ohne einleitenden Umschweif schritt er zur Tat und rief mich zur Ordnung:
»Sie sind im ‘Nichtraucher-Abteil‘! Hier ist Rauchen verboten!«
In seiner Stimme erkannte ich den Anklang von Panik, dennoch war seine
Zurechtweisung von heldenhafter Kraft angetrieben, so als müsse er eine
drohende Gefahr bannen, um viele Menschenleben zu retten.
»Ich halte doch nur eine Zigarette!« erwiderte ich unschuldig lächelnd,
wandte mich zum Fenster und schaute in die vorbeifließende Landschaft hin-
aus. Nun war die Ordnung perfekt: Wie Landschaft nur ein Augenschmauß
ohne weiteren Kontakt mit anderen Sinnen, so war auch die Zigarette nicht
mehr als eine Attrappe zwischen den Fingern.
(1.2.2006)
Kakerlaken und Ratten…
»Merkwürdige Dinge gehen vor sich in dieser Welt…« üsterte sie leise. Die alte Dame
hatte einen Fensterplatz wie ich und saß mir gegenüber, ich kannte sie nicht.
»Welche Dinge meinen Sie?« fragte ich ahnungslos zurück, bisher hatten wir noch kein
Wort miteinander gewechselt.
Sie blickte mich mit ihren durchdringenden Augen lange an und beinahe wurde mir un-
heimlich und schummerig. Da war dieses wissende Element in ihrem Blick, das meinen Ver-
stand verlachte wie der Narr den König. Ich stürzte vom Sicherheitsgerüst geradewegs in
ihre Hände.
»Diese Dinge sieht man nicht… nicht so leicht…« antwortete sie, »…für den einen sind
sie sichtbar, für den anderen sind sie unsichtbar!«
Dann schwieg sie geheimnisvoll. Ich wagte nicht, etwas zu sagen. In der Luft stand ge-
schrieben, ich solle nun nicht fragen. Beinahe lautlos hielt der Zug. Gemäßigte Unruhe ent-
stand. Einige Passagiere hatten sich bereits erhoben, nahmen jetzt stumm und blicklos
ihre Jacken und Rollköfferchen, bewegten sich langsam zum Ausgang und stiegen aus. Al-
les vollzog sich schweigend. Niemand sprach. Jeder schien seinen Bestimmungsort genau
zu kennen. Von draußen das Echo der Bahnhofsstimme, die Richtungen und Ziele verkün-
dete, ohne Sehnsucht zu wecken. Nach einer Minute schlossen sich die Türen automatisch
wieder und geräuschlos setzte sich der Zug in Bewegung. Ich war verwirrt. Die Bewegung
war nicht zu fühlen, sondern nur mit den Augen wahrnehmbar, weil ich aus dem Fenster
schaute und die Landschaft sich zu bewegen begann.
Die Frau gegenüber lächelte. Sie war nicht jung, aber auch nicht alt. Sie lächelte mich
an. Ich fühlte mich beobachtet, von ihrem Blick untersucht, ihr ausgeliefert. Sie war sehr
freundlich, wollte mir nichts böses. Aber sie wußte so viel! Das zumindest verrieten ihre
Augen. Sie war zeitlos gekleidet. Beängstigend zeitlos. Ich konnte sie nicht einordnen. Sie
besaß eine angeborene Eleganz, die jedem Kleidungstück Ansehnlichkeit verlieh. Aber un-
ter ihrer hellen Haut berstete Wildheit. Ich mußte an Kali denken, die indische Göttin, die
eine lange Kette aus Totenschädeln um ihren Hals trägt und böse Geister bekämpft. Ich
fühlte mich wie bei der schwarzen Göttin eher beschützt als bedroht.
Die Unbekannte schaute abwechselnd aus dem Fenster und zu mir. In ihrem Lächeln lag
plötzlich etwas, als wüßte sie genau, was ich denke. Ich lächelte zurück, ergab mich und
nießte. Ihr musternder Blick zwang mich, etwas zu sagen.
»Ich nieße oft!« sagte ich wie zur Entschuldigung und mußte gleich noch einmal nießen.
Dann noch einmal.
Bestimmt dachte sie, ich sei Allergiker, überlegte ich. Ich war aber nicht allergisch,
nicht wirklich.
Sie beugte sich vor und fragte:
»Kennen Sie die Gemeinsamkeit von Kakerlaken und Ratten?«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
»Sie passen sich allen Gegebenheiten an!« erklärte sie, »Man könnte sie auf dem Mond
aussetzen und sie würden überleben. Dreck, Bakterien, Katastrophen, Nahrungsmangel?
Das kann einer Kakerlake und einer Ratte nichts anhaben. Blitzschnell können sie sich jeg-
lichen Mißständen anpassen. Sie sind die Schmutznießer unserer Gesellschaft…«
Verwirrt hörte ich zu.
»Kennen Sie die Gemeinsamkeit von Kakerlaken, Ratten und Menschen?«
Verwirrt starrte ich sie an.
»Sie passen sich an!« beantwortete sie die Frage selbst und lachte wie über etwas au-
ßerordentlich Komisches, »Schauen Sie sich doch nur um! Haben Sie den Mut zu sehen,
was vor sich geht! Hier sitzen wir in einem Zug der Neuzeit und bilden uns ein, besonders
modern und frei zu sein. Aber was sehe ich in Wirklichkeit? Die Fahrgäste müssen in einer
luftdichten Tube sitzen! Damit sie nicht ersticken, werden sie von unsichtbaren Maschinen
mit warmer Luft versorgt, aber eben gerade soviel, damit sie nicht ersticken. Wie schlecht
die Luft ist, merken sie schon gar nicht mehr, nur wenige Körper reagieren mit Protest
und nießen…«
Sie blickte sich um, wie um mir zu zeigen, was ich sehen soll. Dann fuhr sie mit leiser
Stimme fort:
»Der moderne Mensch ist gezwungen, sich das Bedürfnis und die Freiheit abzugewöh-
nen, das Fenster öffnen zu wollen, wenn ihm danach ist - weil er es nicht mehr kann! Er
hat gar keine andere Wahl. Er muß sich daran gewöhnen und sich anpassen, daß er nichts
tun kann, wenn ihm zu heiß oder zu kalt ist. Weil er sich wohlfühlen will, muß er sich also
an sein Gefängnis anpassen. Der einzige Unterschied zwischen Kakerlaken und Ratten zu
den Menschen ist der, daß der Mensch denken kann. Damit er daher auf keine dummen
Gedanken kommt, während ungefragte Bedürfnisse in ihm hochsteigen, läßt er sich dahin-
gehend manipulieren, alles toll zu nden, was man ihm als neu und modern verabreicht. Er
stellt dann keine unangenehmen Fragen, was eigentlich der Fortschritt an einem neuen
Zug sein soll, wenn er nicht einmal sein Grundbedürfnis nach frischer Luft stillen kann…«
Sie hat recht! dachte ich erschrocken und erinnerte mich an einen Zwischenfall vor vie-
len Jahren. Während der Fahrt war der Zug auf freier Strecke wegen Motorschadens plötz-
lich stehengeblieben. Lange Zeit ließen sich die Türen nicht öffnen und ein Schaffner ging
durch die vollbesetzten Wagen, um die schmalen Notfenster an beiden Enden der Wag-
gons zu kippen. Es war Sommer und die brachliegende Klimaanlage hatte sofort unerträg-
liche Schwüle zur Folge. Der winzige gekippte Fensterschlitz kam gegen das Schwitzen der
Menschen nicht an. Die Durchsage aus den Lautsprechern sollte die Passagiere beruhigen
und aufmuntern, da man ja bemüht sei, die Türen so schnell wie möglich zu öffnen. Bei
den Erwachsenen tat das beschönigende Blabla seine beabsichtigte Wirkung, nicht aber
bei meinem vierjährigen Patensohn, der zu stöhnen begann und dann mit leidender Miene
sagte:
»Oh, ich glaube ich ersticke!«
Ich bemerkte nicht, wie die Erinnerung meine Mundwinkel zum Schmunzeln formte. Erst
als die Unbekannte mich wieder ansprach, kehrte ich in die Gegenwart zurück.
»Was belustigt Sie?« fragte sie interessiert.
»Ich habe mich an etwas erinnert.« antwortete ich.
Die Unbekannte lehnte sich mit einem Seufzer zurück und schaute in die vorbei itzen-
de Landschaft hinaus. Die Sonne knallte geballte Energie von einem blitzblauen Himmel
herab, die Scheibe wirkte wie ein Brennglas. Auf einmal überkam mich der dringende Im-
puls, das Fenster aufzuziehen und die vorbei itzende Luft ins Gesicht wehen zu lassen.
Unwillkürlich musterte ich das Fenster. Nirgendwo war ein Griff angebracht. Das Glas in
den großen Metallrahmen war mit breiten Gummirändern luftdicht eingeschweißt. Aus dem
schmalen Gitterrost darunter strömte nur dürftig ein bißchen Luft hervor. Die Luft war
tot. Sie roch nach nichts. Ich lehnte mich zurück und schaute weiter in die vorbei itzende
Landschaft, die nicht einmal ein Traum war. Denn hätte ich sie geträumt, wäre sie echt
gewesen und ihre Frische hätte auch meine Nase erreicht.
Lichtloses Dunkel stülpte sich über uns, der Zug durchfuhr einen Tunnel. Da traf mein
Blick in der re ektierenden Scheibe auf die Augen der Unbekannten. Lange sahen wir uns
an.
»Was ist vom Reisen noch geblieben?« fragte sie mich aus der re ektierenden Fenster-
scheibe heraus, »Die Menschen sind Kakerlaken und Ratten geworden, haben sich ange-
paßt, scheinen nichts zu vermissen…«
Wir betrachteten die Augen unserer Spiegelgesichter. Nur die Augen konnten erfassen,
daß die luftdichte Tube gerade durch einen Tunnel itzte, die anderen Sinnesorgane blie-
ben ungefragt, ngen an sich zu langweilen. Ja, dachte ich, die Monotonie der immerglei-
chen Reize von Temperatur und Geruch veranlassen den Rest des Emp ndens, träge und
müde zu werden. Es lohnt sich nicht mehr aufzuwachen!
Ein Hauch von Panik legte sich auf meine Brust. Ich bewegte mich nicht. Wie eingefro-
ren, als würde dies alles nicht wahr sein, lehnte ich im gepolsterten Sitz, der dennoch
nicht bequem war.
»Ja…« sagte ich zu dem zeitlosen Gesicht im Glas und vergaß weiterzusprechen.
Schnell wachsende Dämmerung kündigte Helligkeit an, die sich mit gleißendem Licht
auf die Fenster schmiß und unsere Spiegelbilder wegriß.
Ich hörte die Unbekannte gegenüber in ihrer Handtasche kramen; ein Etui schnappte
auf und zu, dann lehnte sie sich wieder zurück. Ich schaute nicht hin, mein Blick war noch
eingefroren. Doch dort, wo im Tunnel das Gesicht in der Scheibe gewesen war, wanderte
jetzt die Landschaft entlang. Je näher sie mit ihren Böschungen und Bäumen an die Gleise
heran rückte, desto schneller itzten die Dinge vorbei. Je weiter Hügel, Bäume und Felder
sich entfernten, desto langsamer zogen sie am Fenster vorüber und umso mehr konnte
ich sehen… Lange blickte ich nur auf diesen einen Punkt und dachte nicht daran, mich zu
lösen.
Irgendwo hinter mir spürte ich Bewegung aufkommen. Unmittelbar drehte ich mich um
und sah den Schaffner die Fahrkarten kontrollieren. Es würde noch eine Weile dauern, bis
er meine Reihe erreichte, dachte ich antriebslos. Ich war noch nicht in der Stimmung, mei-
ne Hände zu bewegen, um das Ticket hervorzuholen. Die überheizte schlechte Luft mach-
te mich schwer; meine Hände waren geschwollen, ein Gewicht drückte von meiner Stirn
auf die Augenlider. Die Poren meiner Haut hatten dicht gemacht, jetzt war ich in mir
selbst eingesperrt und mußte langsam ersticken…
Die Unbekannte schaute aus dem Fenster. Jetzt erst bemerkte ich, daß sie eine Zige-
ratte zwischen ihren Fingern hielt, die nicht angezündet war. Manchmal führte sie die Ziga-
rette zu ihrem Mund und zog daran. Es verwunderte mich, weil die Zigarette ja gar nicht
brannte. Dann el mir ein, daß wir im ‘Nichtraucher‘ saßen. Schließlich stand der Schaffner
vor unserer Reihe.
»Die Fahrkarten bitte!« sagte er mit freundlicher Automaten-Stimme. Da entdeckte er
die Zigarette zwischen den Fingern der Unbekannten und seine Freundlichkeit schlug um in
Strenge:
»Dies hier ist das Nichtraucher-Abteil!« sagte er in belehrendem Ton, dabei hätte er ihr
Sohn sein können.
»Ja, ich weiß!« antwortete die Unbekannte mit Schalk im Gesicht und Freundlichkeit in
der Stimme, zog dann kräftig an der Zigarette und fragte mit scheinheiliger Miene:
»Wer raucht hier?«
»…Ihre Zigarette!« erwiderte der Schaffner und seine Automatenstimme ng an zu
stolpern.
»Achso! Das irritiert Sie!« lachte die Unbekannte und schaute wie verblüfft auf ihre Zi-
garette, »Wissen Sie, so schmeckt die Luft ein wenig besser!«
Der Schaffner blickte nicht mehr freundlich drein. Sein Automat hatte sich wegen Über-
lastung automatisch auf das Basisprogramm heruntergeschaltet. Er kann nichts dagegen
tun, dachte ich, als er p ichtgetreu die Fahrkarten abknipste, er ist halt in seiner Schaff-
ner-Uniform gefangen! Immer noch besser, überlegte ich weiter, denn ich bin in meiner ei-
genen Haut gefangen! Ich werde zuerst ersticken, nicht er…
»Ach, wären Sie so freundlich und halten meine Zigarette?« bat mich die Unbekannte,
nachdem der Schaffner weitergegangen war.
Gedankenverloren nickte ich.
»Ich gehe zur Toilette, ein bißchen Luft schnappen!« erklärte sie mit einem verschwö-
rerischen Zwinkern und überreichte mir die Zigarette wie einen magischen Zauberstab. Nun
hielt ich die Zigarette zwischen meinen Fingern, aber daran zu ziehen, obwohl sie nicht
brannte, erschien mir doch etwas sonderbar.
Kaum war sie verschwunden, kam aus der entgegengesetzten Richtung ein anderer
Schaffner vorbei. Mit seinem durchdringenden Schaffnerblick für alles, was nicht die Re-
geln erfüllte, erkannte er sofort die Unstimmigkeit. Ohne einleitenden Umschweif schritt er
zur Tat und rief mich zur Ordnung:
»Sie sind im ‘Nichtraucher-Abteil‘! Hier ist Rauchen verboten!«
In seiner Stimme erkannte ich den Anklang von Panik, dennoch war seine Zurechtwei-
sung von heldenhafter Kraft angetrieben, so als müsse er eine drohende Gefahr bannen,
um viele Menschenleben zu retten.
»Ich halte doch nur eine Zigarette!« erwiderte ich unschuldig lächelnd, wandte mich
zum Fenster und schaute in die vorbei ießende Landschaft hinaus. Nun war die Ordnung
perfekt: Wie Landschaft nur ein Augenschmauß ohne weiteren Kontakt mit anderen Sin-
nen, so war auch die Zigarette nicht mehr als eine Attrappe zwischen den Fingern
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