Lügengeschichten und wahre Märchen…
- Sylvie Bantle
- 22. März
- 18 Min. Lesezeit

Der Preis der Wahrheit
»Ich bin eine Bedrohung für die Menschen…« sagte die alte zu der jungen
Frau, die daraufhin mit Empörung reagierte: »Was redest du?!«
»Nein, nein…« beschwichtigte die Alte und kein Lächeln war in ihrem Ge-
sicht, »du brauchst mir jetzt nicht zu schmeicheln, ich weiß, was wahr ist!«
Sie schaute den Passanten zu, wie sie die stumpfen Blicke auf nirgendwo ge-
heftet vorbeihetzten. Die Junge drehte sich eine Zigarette. Die Augen mit
Nachdenklichkeit gerahmt, schien ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Worte
der Alten gerichtet, die jetzt schwieg und schaute. Manchmal klirrte eine
Münze auf das harte Blech der Dose zu ihren Füßen. Der Hund an ihrer Seite
döste und jedesmal, wenn das Klirren neben sein Ohr el, zog er gelangweilt
das linke Augenlid hoch, so als wolle er ebenmal nachprüfen, ob es die Sache
überhaupt wert sei. Die zwei Frauen saßen auf dem Boden, aber nicht direkt
auf den Steinplatten des Gehsteigs, sie hatten sich einen dicken Karton unter-
gelegt, der an den Rändern ganz weich und an den Ecken zer eddert war.
»Warum meinst du, daß du eine Bedrohung für die Menschen bist?« fragte die
junge Frau, als sie sich die Zigarette anzündete.
»Weil es wahr ist!« antwortete die alte Frau, ohne sie anzuschauen.
»Aber du sitzt doch nur da! Was tust du schon, was die Menschen bedroht?
Du bist doch nur eine harmlose Pennerin wie viele an anderen
Straßenecken…«
Die Junge verstand das nicht, was die Alte da redete, am allerwenigsten aber
verstand sie, daß sie so redete, ohne etwas getrunken zu haben.
Die alte Frau sagte lange nichts, dann wandte sie sich plötzlich vertraulich zur
Seite und fragte fast üsternd:
»Warum sitzt du hier?«
Die junge Frau völlig perplex über solch eine Frage antwortete:
»Na wegen der Knete! Und…« sie hielt einen kurzen Moment inne, so als
müßte sie die abtrünnigen Gedanken wieder einfangen, und meinte dann: »…
was sollt‘ ich sonst machen?«
»Siehst du,« gab die Alte nun zur Antwort, »du weißt also nicht, warum du da
bist, wo du gerade sitzt!«
Die Junge zuerst entgeistert entschied sich nun, die Worte lustig zu nehmen,
und lachte:
»Bestimmt kannst du es mir sagen!«
»Du willst also die Wahrheit wissen?« fragte die Alte und blickte die Junge mit
einem seltsamen Schleier in den Augen an.
»Ja!« lachte die Junge, »nun mach schon!«
»Und du hast gar keine Angst?«
»Wovor?«
»Vor der Wahrheit.«
»Na, wenn du sie überlebt hast, werde ich sie auch überleben!« kicherte die
Junge und nahm einen kräftigen Zug aus der Wein asche, »Magst du nicht
doch einen Schluck?«
»Nein, untertags macht mich das müde.«
»Na, wenn schon?! Dann machst du halt ein Nickerchen!«
»Ich will den Tag nicht verschlafen!«
»Was versäumst du schon Großartiges?«
Die Alte wandte sich schmunzelnd um und meinte:
»Das Leben!«
Sie stand auf und kaufte sich einen Apfel am Obststand. Als sie zurückkam
setzte sie sich wieder und aß mit schmatzenden Geräuschen den Apfel.
Die junge Frau nahm das Gespräch wieder auf und sagte in einem übertrieben
feierlichen Tonfall:
»Wolltest du mir nicht die Wahrheit über mein Dasein offenbaren?«
»Es ist bestimmt besser, wenn du sie nicht weißt…« wehrte die Alte ab, kaute
den Rest des Apfel klein und spuckte die Kerne aus, »Ich habe kein Recht, ir-
gendjemandem die Wahrheit zu sagen!«
Während sie die Apfelschalenreste zwischen den Zähnen mit Zunge und Fin-
gernägeln entfernte, schien sie angestrengt zu überlegen, denn plötzlich hellte
die Einsicht ihr Gesicht auf und sie schlug vor:
»Aber ich zeig sie dir, die Wahrheit, und laß sie dich fühlen… einverstanden?«
»Na, klar, leg schon los!« antwortete die Junge mit einem An ug von Generv-
theit in der Stimme.
Die Alte begann nun einen leisen tiefen Summton auszustoßen, der an den
jammernden Gesang alter Indianerinnen erinnerte, und ihre Augen richteten
sich auf einen Ort in unendlicher Ferne. Eine ganze Weile saß sie so da, dann
geschah etwas äußerst Unbegrei iches. Die junge Frau bemerkte erst nichts,
wunderte sich nur, weil eine bleierne Traurigkeit aus dem tiefsten Innern auf-
stieg. Dieser Stimmungswandel aber verhielt sich anders als sonst und ließ
sich weder ablenken noch verheimlichen. Unbenennbare Schmerzen bedräng-
ten sie von allen Seiten und lösten hinter ihren Augäpfeln solch einen enor-
men Druck aus, daß Tränen heraus ossen. Es spielte sich alles nur in ihrem
Innern ab! Es gab keine Kraft dagegen, das salzige Seelenwasser suchte den
Weg in die Freiheit, wollte nur ans Tageslicht, gesehen sein, nur das… und die
Traurigkeit, die damit einherging, lähmte all ihre Glieder…
So saß die junge Frau da, zu nichts anderem fähig als zu sitzen und zu schau-
en, und gezwungen der Traurigkeit zuzuhören. Was dann ihre Augen sahen,
erschien ihr wie ein böser wahrgewordener Traum. Die Passanten, die eben
noch zielorientiert die Blicke auf Geradeaus gerichtet im Laufschritt in alle
Richtungen vorbeihetzten, verlangsamten mit einem Mal ihre Schritte - wie
wenn jemand an einem wichtigen Knopf die Geschwindigkeit herunterdrehte
- und richteten auf nirgendwo plötzlich stumpfe Blicke…
Was geht hier vor? meinte die junge Frau zu üstern, doch kein Hauch kam
über ihre Lippen. Sie konnte nicht begreifen, was vor sich ging. Es geschah auf
mysteriöse Weise. Wie von einem Zauber ergriffen, hielten die Menschen auf
einmal inne und blickten mit Schrecken und Wundern in den Augen umher,
als sehen sie zum ersten Mal, was da wirklich war. Manche blieben kraftlos
stehen, außerstande weiterzugehen, weinten haltlos wie kleine Kinder, die ei-
nen still, die andern laut schluchzend, einige sackten gar zu Boden, wurden so
ruckartig von unerträglichen Wuchten getroffen, als hätte sie jemand nieder-
geschossen. Ein gut gekleideter Mann mit teurem Aktenkoffer lief schreiend
davon, ein hin und her geworfenes Echo hinter sich her ziehend. Kaum ver-
schwunden kehrte er schon wieder zurück, Panik im Schritt und die Hölle im
Gesicht. Er schrie so laut, als plagten ihn wahnsinnige Schmerzen…
Alle gebärdeten sich in seltsamer Weise. Im Nu hatte sich die ganze Straße in
ein Tal des Leids verwandelt, niemand blieb so, wie er war. Nur die alte Frau
saß unbeweglich da, blickte in die Ferne und summte den leisen tiefen Ton.
Die junge Frau sah das alles, die Wein asche in der Hand. Sie setzte sie an den
Mund und trank sie in einem Zug leer. Das Gesicht über utet von Tränen, die
Augen wirr. Da kam aus der Tiefe ihres Magens ein Heulen wie das eines wil-
den Tieres und in einem Riesenschwall erbrach sie alles, was sie so ahnungslos
in sich hinein geschüttet hatte…
Danach ging es ihr besser, nur die Traurigkeit blieb bei ihr. Sie wollte aufste-
hen und weglaufen, aber sie tat es nicht. Sie wußte nicht, in welche Richtung
laufen. Sie kannte keinen Ort, wohin sie hätte gehen können, keinen Ort, wo
Trost auf sie wartete…
Da verstummte die Alte. Und nach einer Weile geschah wieder etwas Merk-
würdiges. Der Zauber schien sich aufzulösen. Die Menschen hörten auf zu
weinen und zu schluchzen und zu schreien und sich am Boden zu winden. Als
wäre nie dergleichen vorgefallen, richteten sie sich auf und gingen so, wie sie
es zuvor getan hatten, im Eilschritt ihre Wege, die stumpfen Blicke auf nir-
gendwo geheftet… Nur der Staub an ihrer Kleidung, vom Wälzen am Boden
verursacht, und die verweinten Gesichter zeugten von dem seltsamen Spuk.
Mit der Automatik der Gewohnheit warf eine Passantin eine Münze in den
Blechnapf und das Klirren ließ den Hund gelangweilt ein Auge auftun.
»Jetzt hast du die Wahrheit gesehen…« sagte die alte Frau, »…deshalb bin ich
eine Bedrohung für die Menschen…« und mit einem Seufzer fügte sie hinzu:
»Aber zum Glück wissen sie es nicht…«
Die junge Frau brachte kein Wort hervor, hatte nur den einen Gedanken: Wie
werde ich meine Traurigkeit wieder los?
Und als hätte die Alte ihre Gedanken gehört, sagte sie mit einem leichten Ni-
cken in die Ferne:
»Das ist der Preis der Wahrheit…«
Die Alte steht auf, schwerfällig und doch agil geht sie an den Menschen vor-
bei, gedankenverloren, so scheint es. Da erblickt sie plötzlich in der Menge
eine junge Frau, die sehr sexy gekleidet ist. Unmittelbar bleibt sie stehen, ge-
bannt von der auffälligen Erscheinung dieser jungen Frau, die allem Anschein
nach sehr viel Mühe verwendete, um ihr Äußeres attraktiv zu gestalten. Bei-
nahe wirkt ihre Aufmachung anbiedernd, denkt die Alte und ein dämonisches
Schmunzeln legt sich über ihr Gesicht. In diesem Augenblick bricht die junge
Frau, die eben noch stolz des Weges kam, schreiend zusammen, wälzt sich am
Boden, so als habe sie heftige Schmerzen. Leute bleiben stehen, verwirrt, ob
dies nun ein ernster Notfall ist oder nur der hysterische Ausbruch einer Ver-
rückten. Mehr Leute bleiben verunsichert stehen, blicken betroffen auf die
Schreiende, die eben noch schick und sauber gekleidet war. Manche schütteln
ungläubig den Kopf, lassen eine Bemerkung fallen, und gehen dann weiter,
andere schütteln ungläubig den Kopf und gehen nicht weiter. Doch seltsa-
merweise geht niemand zu der Ausgerasteten hin, um sie zu berühren, in den
Arm zu nehmen, zu besänftigen, so als sei dies ein Fall, wo keiner helfen kann.
Geradezu ein hoffnungsloser und bedauernswerter Fall.
Sogar die Alte, die dies von weitem beobachtet, erschrickt über das Ausmaß
der Verzwei ung dieser armen jungen Frau, die sich am Boden windet, als
hätte sie den Verstand verloren. Von den zerrissen Sätzen, die sie bereits heiser
vom Schreien unkontrolliert ausstößt, ist nur wenig zu verstehen: »Mama! …
Mutter …liebt mich nicht… Nein… Nie… nur Weihnachten! …Vater! Nicht
da… «
Tränen der Ergriffenheit laufen der Alten über das Gesicht. Das ist es also, was
sie stutzig gemacht hatte… denkt sie, der ganze Aufwand für dieses attraktive
Out t lediglich der Aufschrei nach Liebe! …die Verzwei ungstat einer Nicht-
geliebten nach Aufmerksamkeit…
Während die Alte so schaut und denkt, ja genau in dem Moment, da sie be-
greift, daß sie den Stolz dieser Frau ernst genommen hatte, tritt eine Besserung
ein. Die Verzweifelte verstummt mit einem mal, setzt sich verwirrt auf und
schüttelt den Kopf, als würde sie eben erwachen. Sie wischte sich mit den
Händen Rotz und Tränen aus dem Gesicht, streicht die Haare zu einer Frisur
zurück, greift nach ihrer Handtasche. Noch bevor sie um sich blickt und auf-
stehen will, sind alle ungläubigen Zögerer kopfschüttelnd weitergegangen.
Die junge Frau muß sich also nicht beschämt fühlen, als sie aufsteht und ihre
sexy Kleidung zurecht zupft. Niemand steht mehr da und glotzt sie an, als sei
sie eine blöde Irre. Das wäre ein ziemlicher Schock für sie gewesen. Aber so,
konnte sie in der Ansicht weitergehen, als sei ihr nur kurz übel geworden…
Die Alte wischt sich lächelnd ihre Tränen aus dem Gesicht und geht weiter.
Am Eck bleibt sie stehen, ein gemütliches Café, sie geht hinein. Zu ihrer Freu-
de ist ein Fensterplatz frei, dort nimmt sie Platz. Ein freundlicher Kellner
nimmt sogleich ihre Bestellung mit Sonderwunsch auf. Bestimmt ist er schwul,
denkt die Alte, sonst wäre er nicht so nett.
Über der Theke in der Mitte des Café‘s ist ein großer Fernseher angebracht.
Gerade laufen die Nachrichten. Das Hauptthema ist der bevorstehende An-
griff auf den Irak. Die Alte schaut den Bildern mit sichtlichem Unbehagen zu.
Der freundliche Kellner bringt ihren Cappuccino, wie bestellt besonders stark.
Sie bedankt sich lächelnd nach dem ersten Probeschluck, der Kellner scheint
sich darüber zu freuen und geht zur Theke zurück. Die Alte xiert gebannt die
Mattscheibe mit den aktuellen Nachrichten. Kurz hält sie inne, blickt sich im
Café um. Sonnenstrahlen strömen durch die hohe Glasfront herein… ein di-
ckes Strahlenbündel fällt auf einen Tisch, an dem ein turtelndes Liebespaar
sitzt, er hält ihre Hand, sie hält seine Hand… ein anderes Lichtbündel fällt an
einen Tisch, an dem zwei alte Paare sitzen und auf einmal lauthals au achen,
sich dann zuprosten und wie in heiliger Mission an ihren Cognacgläsern nip-
pen…
Die Alte stutzt. Ist sie die einzige, die gerade die News sieht? Der Fernseher
läuft für alle…
Da greift der freundlich schwule Kellner wie aus Langeweile nach der Fern-
bedienung und stellt die Lautstärke ein bißchen lauter ein. Wieder ziehen die
Bilder die Alte in Bann. Sie nippt am Cappuccino, doch eher, weil sie etwas
verstecken will. Ihre Tränen. Unangemeldet waren sie über ihr Gesicht herge-
fallen. Mit solch einem Gefühlsturm hätte sie nie gerechnet. Nicht mehr! Daß
die ganze Weltpolitik nach Drittem Weltkrieg roch, war ja seit längerem schon
in den Köpfen der Menschheit. Irgendwie ist die Vorstellung schrecklich, aber
andrerseits hat sich jeder an dieses schreckliche Gefühl gewöhnt. Irgendwie
scheint die Menschheit taub geworden zu sein und vergessen zu haben, daß
dies die Welt aller ist, UNSERE Welt… nicht nur die Welt derjenigen mit dem
größte Machthunger…
So dachte die Alte, während sie auf die quadratischen Bilder der Gegenwart
dieser Welt starrte. Tränen rannen ihr über das Gesicht, auf dem Bildschirm
rannten der Präsident der U.S.A. und seine Berater salopp die Treppen zwi-
schen weißen Säulen hinauf, winkten lachend den Reportern zu und schüttel-
ten in Siegerlaune hier und da ein paar Hände… Und während die Off-Stim-
me des Reporters die Gründe aufzählte, die die eiserne Unerbittlichkeit des
Präsidenten rechtfertigen sollten, mit Kriegsgewalt gegen ein Land wie den
bösen Irak vorzugehen… während also dieser Kommentator, von journalisti-
schen Lustgefühlen noch völlig berauscht, den bevorstehenden Krieg in intel-
lektuelle Partikel zerlegte, geschahen auf dem Bild schon ganz andere Sa-
chen…
Die Tränen im Gesicht der Alten sind noch feucht, aber die Züge darunter här-
teten sich deutlich, während sie wie in Trance auf die Mattscheibe starrt…
Der Präsident stolpert… denn warum sollte er sonst hinfallen?! Die bestürzten
Berater stürzen sich über ihn, stützen ihn, damit er wieder auf die Beine
kommt… aber aus irgendeinem Grund scheint dies nicht möglich zu sein, al-
lerdings nicht, weil er etwa ohnmächtig geworden war, nein, nein, vonwegen,
er kann von den bestürzten Beratern nicht gebändigt werden, weil er sich so
wild gebärdet… ja, ja, richtig wild! Der Präsident von den Vereinigten Staaten
führt sich auf wie ein… ein Verrückter, wie einer, der den Verstand verloren
hat…
Da zuckt die Alte auf, fühlt sich an etwas erinnert… sieht sich selbst, wie sie
beim ersten Aufkommen der Kriegsbotschaften die Fotogra en der zwei ver-
antwortlichen Staatsoberhäupter beschwor, sie mögen bald den Verstand ver-
lieren in einer Art, daß man sie umgehend in Verwahrung bringen mußte, sie
also schadlos geworden waren…
Nachdem monatelang nichts dergleichen geschah und die zwei mächtigen
Kriegsstifter sich bester Laune und Gesundheit erfreuten, war die Alte ent-
täuscht, weil ihre Verwünschung der Weltrettung zuliebe - und somit auch ei-
gennützig - scheinbar nicht wirken wollte.
Jetzt geschah es. Es geschieht! Jetzt! Ihr Blick hellt sich auf, sie genießt das
Chaos auf dem Bildschirm. Der quadratische Ausschnitt auf die Welt präsen-
tiert in ungeschnittener Länge den Wahnsinn des Allermächtigsten und der
gleichzeitigen Verzwei ung von Kommentator und Bildabschalter. Irgendwie
scheint gerade jetzt in der größten Peinlichkeit der Weltgeschichte das Knöpf-
chen mit der Inschrift ‘OFF‘ zu klemmen. Als hätten die Götter beschlossen,
daß es die ganze Welt sehen soll, wie der mächtigste Mann des Erdballs
durchdreht und allem Anschein nach nicht mehr bei Sinnen ist. Die Wahrheit
ist von solcher Konzentration, daß sie unerkannt bleibt und der Eindruck ent-
steht, sogar man selbst sei Teil eines skurrilen Films. Nein, die Augen haben so
etwas noch nie gesehen! Das Gefühl hat es von Anfang an gewußt, aber die
Augen haben es nie zu sehen gewagt.
Beißend, boxend, schreiend riß sich der mächtigste Mann der Welt von seinen
bestürzten Beratern los und jagte nun brüllend über die Treppen zwischen den
weißen Säulen. Den Lärm, den er dabei macht, erinnert ein wenig an Godzil-
la… Er ging aber nicht auf die Reporter los, nein, ihnen tat er nichts, sondern
raste mit schrecklichen Gebärden auf seine eigenen Berater zu, die vor lauter
Bestürzung ganz gelähmt sind…
Die Alte genießt den Wahnsinn auf dem Bilschirm, der ihr den Zustand der
Welt zeigt. Die Hölle wird von den anderen gelitten. Endlich hat der Bildab-
schalter den richtigen Knopf gefunden. Es folgen die Lottozahlen und der
Wetterbericht, dann das Wort zum Sonntag, obwohl doch Montag ist. Mond-
tag, überlegt die Alte, Mond-Tag…
Eine halbe Stunde vergeht mit völlig neuer Chronologie der Berichterstattung,
eine neue Blumensorte wird vorgestellt, dann eine Hundertzehnjährige im Al-
tersheim mit dem fröhlichen Personal und einem strahlenden Bürgermeister,
die ihr gratulieren…
Die Alte bestellt sich einen Grappa. Ihr Herz taumelt vor lauter Jubel, der in
ihrem Innern tobt. Dann endlich Nahrichten: Der Präsident der Vereinigten
Staaten habe einen Zusammenbruch erlitten, aufgrund von… bestätigen die
Ärzte… Da plötzlich eine Unterbrechung, wegen wichtiger Meldungen. Da
heißt es: Der Präsident von Irak hat einen Zusammenbruch erlitten!
»Ajuh!« entfährt der Alten juchzend. Als der Kellner den Grappa bringt, be-
stellt sie eine Flasche Champagner, die erste ihres Lebens, »…und mehrere
Gläser!« ruft sie ihm hinterher.
Nun werden auch Bilder aus Irak gezeigt, hier nur tobt sich der Präsident
nicht auf Treppen mit weißen Säulen aus, sondern auf der weißen Tischdecke
bei einem festlichen Festtagsbankett. Die Szenen machen viel mehr her, als die
des Weltmächtigsten; da sind teure chinesischen Vasen, Schüsseln aus Glas
und Porzelan, alles griffbereit und fertig für den Wurf… gefüllte Gläser, Kan-
nen, Vitrinen, Fensterscheiben, alles iegt in hohem Bogen über geduckte
Köpfe und geht zu Bruch auf Boden und an Wänden. Dann jedoch entsteht ein
solches Gerangel, daß die Kamera eins auf die Linse kriegt und das Bild er-
löscht. Es ist tot. Aber nicht lange.
Der Champagner kommt, wie es sich gehört im silbernen Eiskübel. Ein paar
Gläser stellt der Kellner auf den Nebentisch, bringt den wenigen Gästen je-
weils ein Glas. Dann folgt ein Film aus dem Programm… plötzliche Unterbre-
chung mit Sondermeldungen, Fortsetzung des Programms… wieder Unter-
brechung, bald nur noch Sondersendungen über die sensationellen Ereignisse.
Bis zum Abend scheint sich daran nichts zu ändern: Die zwei Kriegskontra-
henten haben am gleichen Tag den Verstand verloren! Wie vereint in ihrem
Schicksal! Jetzt sind sie in der Klinik…
Ja, hier sagt man ‘Klinik‘! sinniert die Alte, würde es sich um Penner halten,
würden sie ‘Klappsmühle‘ sagen…
Mittlerweile hat es draußen zu regnen begonnen. Leute kommen herein, per-
lende Regentropfen auf ihren Mänteln. Das Café füllt sich, kein Platz ist mehr
frei. Ein älterer Herr fragt freudlich an, ob er sich an ihren Tisch setzen darf.
Sie nickt freundlich zurück und schenkt ihm ein Glas Champagner ein. Er
nimmt es völlig perplex entgegen und fragt.
»Gibt es einen besonderen Anlaß zu feiern?«
»Oh, ich weiß nicht…« lacht sie, »…trinken wir auf die Wahrheit!«
»Das ist ein besonderer Anlaß!« antwortet er erstaunt, »Also, auf die
Wahrheit!«
»Auf die Wahrheit!« sagt sie in dem Moment, als die zwei Gläser zusammen-
stoßen. Ihre Tränen im Gesicht sind jetzt getrocknet, es kommen neue hinzu,
ganz anderer Art, nämlich solche, die das Lachen macht.
(Kurzgeschichte und Kurz lm-Skript. - 10.12.2002)
Lügengeschichten und wahre Märchen… (11.12.2002)
»Kann ein Mensch es fertigbringen, nie, also überhaupt niemals zu lügen?«
fragte einst ein Mensch die Göttin der Wahrheit.
Die Göttin lächelte, nein, sie schmunzelte. Sie schmunzelte lange, so als koste
sie von einem süßen Scherz. Dann antwortete sie:
»Nicht einmal die Gottheiten, die ihre Wege in die Ewigkeit bahnen, bringen
das fertig! Ich bin die Einzige, die ohne Lüge ist, denn ich bin das Gesetz der
Ordnung, die Göttin der Wahrheit.«
Die Menschen überlegten. Dann trat einer hervor und fragte:
»Sage uns, oh Göttin der Wahrheit, was sollen wir tun, wenn wir es nicht fer-
tigbringen, ohne Lüge zu leben?«
»Ihr könnt eure Lügen erkennen! Und dann laßt euer Herz dazu sprechen,
dann seid ihr gut beschäftigt…«
Da versiegte die Stimme in der Ferne mit wallendem Lachen.
Ratlos blickten sich die Menschen an. Die Ferne war überall, denn die Göttin
der Wahrheit besaß keinen Ort.
»Nun, ihr habt gehört, was die Göttin gesprochen hat…!« sagte die Älteste,
stand auf und ging nach Hause. Die anderen taten es ihr nach.
Als sie sich nach geraumer Zeit wieder am Felsen einfanden, wo die Göttin
der Wahrheit zu ihnen gesprochen hatte, erzählten sie sich aufgeregt, wie es
ihnen mit ihren Lügen ergangen ist.
»Ich hatte keine Ruhe mehr, nachdem ich meine Frau angelogen hatte…« sagte
einer, dabei war es eine völlig bedeutungslose Lüge!«
»Warum hast du dann gelogen?« fragte ein anderer ihn.
»Ach ich weiß nicht…« war die Antwort, »…aus reiner Achtlosigkeit… Leicht-
sinn!«
Da el er ins Grübeln und meinte schließlich mit kleinlauter Stimme:
»…nein, nein, es war pure Faulheit!«
Diejenigen, die dies vernommen hatten, nickten nachdenklich, bis plötzlich
einer aufsprang und mit Empörung in der Stimme rief:
»Nein, es ist purer Stolz!«
»Warum Stolz?« fragte der Angeklagte.
»Weil es der Stolz ist, der einen am Ehrlichsein hindert!« kam die Antwort zu-
rück, »Denn man lügt doch nur dann, wenn die Wahrheit unangenehm ist und
das selbstgeschaffene Bild einen besser kleidet!«
Ein Raunen wogte durch die Menge, ebbte nur langsam ab.
Es war eine junge Frau, die die Sprachlosigkeit brach und kleinlaut ihr Ge-
ständnis preisgab:
»Mir ist es ähnlich ergangen, als ich mein Kind anlog…«
»Auch ich habe mein Kind angelogen!« meldete sich ein Mann, »Ich war zu
stolz, meinen Fehler einzugestehen, weil ich Angst hatte vor dieser
Schwäche!«
»Auch mir ist es so ergangen!« sagte nun ein anderer Mann, «Ich war stolz,
um der Beschämung vor meinem Kind auszuweichen.«
»Mir ist es ähnlich ergangen,» klagte eine Mutter sich selbst an, »und plötzlich
bekam ich ein so schlechtes Gewissen, daß mir ganz elend wurde. Dann aber
sagte eine stolze Stimme in mir: ‘Ach was, es ist doch nur ein Kind!‘ Diese
stolze Stimme machte mich stark, ich fühlte mich mächtig. Mein Gewissen je-
doch ließ sich nicht beruhigen und erwiderte: ‘Alles verdient die Wahheit,
auch ein Kind!‘ - ‘Ach was,‘ meldete sich dieser stolze Teil in mir zurück, ‘es ist
doch nur eine Lappalie!‘ So ging das für Stunden. Bis ich verstand, daß die
Stimme der Lüge und die Stimme der Wahrheit im Streit lagen…«
»Auch mir erging es so, als ich meine Eltern anlog…« meldete sich ein Junge
zu Wort, »…danach kamen diese Gedanken, die in meinem Kopf solange strit-
ten, bis ich einsah, daß ich nicht ehrlich war…«
»Mir erging es ebenso!« rief wieder einer.
»Mir auch!« rief ein anderer.
»Auch mir!« - »Und mir!« - »Mir auch!«
Und am Ende rief die ganze Menge:
»Wir alle!«
So hatten alle Menschen diesselbe Erfahrung gemacht, die gleichen Gefühle,
den gleichen Kon ikt erlebt. Als ihnen dies bewußt wurde, breitete sich die
Morgenröte am Horizont aus. Die Nacht war vorbei, am Tag würde die Göttin
der Wahrheit nicht sprechen.
»Nun, ihr habt gehört, was die Menschen gesprochen haben…!« sagte die Äl-
teste, stand auf und ging nach Hause. Die anderen taten es ihr nach.
Es ergab sich, daß sich die Menschen in zwei Gruppen spalteten, die eine
lauschte weiterhin der Stimme der Wahrheit, die andere vergaß sie wieder. Ein
Spalt entstand zwischen ihnen, zwei Völker… Je deutlicher sich dieser Spalt in
die Mitte grub, desto häu ger sprangen die Menschen zu jenem Ufer hinüber,
wo man die Begegnung mit der Göttin der Wahrheit vergessen hatte.
Die Kluft wurde unüberwindlich. Kriege enfesselten sich jetzt dort, wo so vie-
le waren. Die Wenigen gingen in der Menge unter, ihre Stimmen ungehört. Die
Menschheit hatte das Gleichgewicht verloren, und ebenso das Augenlicht der
Erkenntnis.
Da trafen sich die Wenigen am Felsen, um die Göttin der Wahrheit um Hilfe
zu bitten. Aber die Göttin sprach nicht, eine allzu lange Zeit lag zwischen ih-
nen.
Die Älteste trat hervor und sagte zu den Menschen:
»Nun, ihr seht, die Göttin spricht nicht mit uns! Eine zu lange Zeit ist verstri-
chen, da wir gelebt haben, ohne sie zu rufen und ihrem Wort zu
lauschen… Jetzt rufen wir sie, weil wir in Not sind, die Göttin aber hat unsere
Namen vergessen… Vielleicht müssen wir ihr Zeit gewähren, damit sie uns
wieder nden kann…«
So sprach die Älteste, stand auf und ging nach Hause.
Als sie nach einigen Tagen beim Felsen vorbeikam, sah sie dort immer noch
die Menschen sitzen, die darauf warteten, daß die Göttin endlich wieder zu
ihnen spricht.
Die Älteste hatte Mitleid mit ihnen, stellte sich in ihre Mitte und rief mit erho-
benen Armen:
»Göttin der Wahrheit, höre unsere Stimme und sage uns, wie kann wieder
Frieden in unsere Welt kommen?«
So stand die Älteste mit erhobenen Armen in der Mitte der Menschen da, die
Hände zum Himmel geöffnet, um die Antwort der Göttin zu empfangen.
Die Göttin der Wahrheit hörte die Rufe der notleidenden Menschen, erbarmte
sich und sprach aus dem Mund der Ältesten:
»Es ist die Lüge, die die Menschen trennt! Die Trennung dann errichtet die
Grenzen und schafft Ungerechtigkeit, wären sie ehrlich mit sich und den an-
deren, müßten sie keine Kriege stiften! Wenn die Menschen Frieden wollen,
müssen sie meiner Stimme lauschen, dann erst werden sie Wahrheit und Lüge
unterscheiden… von dieser Erkenntnis kann sich kein Krieg ernähren… Er-
kennt ihr also eure Lügen, tötet ihr sie und somit reißt ihr die trennenden
Grenzen nieder und löscht den Krieg. Dann erst kann die Wahrheit leben, die
die Mutter des Friedens ist…«
»Was redest Du, Älteste?« rief einer der Wenigen, der die Stimme der Göttin
nicht erkannt hatte und meinte, es sei die Älteste, die das sagte. Er wußte
nicht, daß die Göttin aus dem Mund der Ältesten sprach. Viele wußten es
nicht, die meisten hatten es nicht gemerkt.
Unruhe entstand.
»Wir wollen mit der Göttin der Wahrheit sprechen, nicht mit der Ältesten!«
protestierte jemand laut und einige Stimmen schlossen sich an:
»Ja, die Göttin soll zu uns sprechen!« - »Wir wollen mit der Göttin sprechen!«
Da sagte die Göttin der Wahrheit mit dem Mund der Ältesten zu den Men-
schen:
»Die Göttin spricht soeben zu euch! Ihr müßt ihre Stimme nur hören!«
Aufruhr entstand. Empörung. Gelächter. Spott.
»Dann verrate uns doch, du Göttin der Wahrheit, das Geheimnis des
Friedens!« rief einer der Menschen.
»Ich habe euch die Lösung bereits genannt: Indem ihr eure Lügen erkennt!«
erwiderte die Göttin mit dem Mund der Ältesten.
»Aber, Göttin der Wahrheit, siehst du denn nicht, wir haben Krieg!« schrie ein
anderer aufgebracht und schlug mit geballten Fäusten in die Luft.
»Das ist euer Problem, der Preis der Lüge! Ihr müßt diesen Preis bezahlen,
nicht ich… ihr müßt dafür bezahlen… dafür bezahlen…« so versiegte die
Stimme der Göttin lachend im Mund der Ältesten.
Eifriges Wortgefecht entstand unter den Menschen. Und wieder einer schrie
aufgebracht und beschimpfte die Älteste:
»Wer, glaubst du denn, was du bist?!«
Und ein anderer brüllte:
»Redest zu uns, als seist du die Göttin selbst!«
Und der nächste schrie:
»Willst Du uns die Wahrheit verkünden?!«
Und der nächste:
»Du hebst dich hervor, um uns zu belehren!?«
Und der nächste:
»Bildest du dir etwa ein, etwas besseres zu sein als wir?!«
So ging es in einem fort. Die Alte ließ sie reden, sie war erfüllt von der Stimme
der Göttin.
Da wurde die Göttin der Wahrheit zornig und entzog ihre Stimme der Welt.
Den Zorn aber ließ sie zurück. Und so war es die Älteste, die mit diesem zu-
rückgelassenen göttlichen Zorn rief:
»Ich bin nicht die Göttin der Wahrheit! Wie könnt ihr so dumm sein, das zu
glauben? Kein Mensch kann jemals Göttin oder Gott der Wahrheit sein, kann
es niemals werden…«
Doch dann besann sie sich, denn sie fühlte das Unheil bereits herannahen, und
mit ruhiger Stimme fuhr sie fort:
»Die Göttin hat zu uns gesprochen und ihr habt es nicht gehört!«
Daraufhin erhob sie sich und ging nach Hause, wo sie alsbald verstarb.
Der Krieg zwischen den Völkern setzte sich fort und fand viele Formen der
Grausamkeiten. Viele waren des Elends müde, und die meisten gar zu müde,
an dem leidvollen Dasein etwas zu ändern.
Als nach langer Zeit wieder einmal Menschen beim Felsen zusammentrafen,
waren nur noch wenige übrig geblieben, die davon berichten konnten, daß
hier einst die Göttin der Wahrheit zu den Menschen gesprochen hatte.
Da breitete sich große Sehnsucht unter den Menschen aus, die Stimme der
Göttin wieder zu hören. Um sie herum war ein Trümmerfeld, doch die Grenz-
posten wurden streng bewacht, hier und dort und überall.
Die Göttin sprach nicht mehr zu den Menschen so wie einst vor langer langer
Zeit. Nur eine uralte Greisin, die damals ein Kind und nun die älteste der
Menschen war, konnte aus ihrer Erinnerung erzählen, wie die Göttin der
Wahrheit einst die Menschen beriet, die ihr nur Spott zurückgaben. Und nach
Wahrheit hungernd, ohne es zu wissen, lauschten nun die Menschen, die die
Kriege übrig gelassen hatten. Sie hörten die Worte der Ältesten, die einst als
Kind die Stimme der Göttin aus dem Mund der Ältesten gehört hatte… vor
langer langer Zeit…
ความคิดเห็น