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Nichtvergesserin

  • Autorenbild: Sylvie Bantle
    Sylvie Bantle
  • 25. März
  • 9 Min. Lesezeit

Wa r t e n a u f N i e m a n d - D i e N i c h t v e r g e s s e r i n


»Am Anfang der Hölle lauern die Ungeheuer…«

Die Nichtvergesserin sagt es mit befremdender Unerschrockenheit. Sie weiß, wovon sie

redet, hat sie mit eigenen Augen gesehen, die Ungeheuer und die Hölle. Davonlaufen

wollte sie, genauso wie die anderen. Sie hat das nicht geschafft.

Für Nichtvergesser gibt es kein Entrinnen. Die Krankheit heißt Nichtvergessenkönnen.

Erinnerung folgt ihnen bei jedem Schritt und überall hin, jagt sie jede Minute durch die

Fremde und hält sie fest an Orten, wo sie nicht zu Hause sind, versperrt hartnäckig den

Weg zur Flucht und verhindert die erlösende Reise ins Land des Vergessens - die Bilder

wollen existieren… leben!

Niemand teilt mit ihr diese Bilder, die Nichtvergesserin ist allein mit ihnen.

»Wie heißt die Zauberformel, damit man vergessen kann, was so quält?« grübelt sie - wie

oft schon?

Die anderen können vergessen. Warum nicht sie?

»Wie kann auch ich es lernen?«

Jahrelang hat sie nach dem verheißenden Simsalabim gesucht, das die anderen kennen,

jahrzehntelang nicht gefunden. Gar ein Leben lang…?

»Nein! Bloß nicht ein Leben lang!«

Die Vorstellung klatscht pures Entsetzen an die Wand.

Niemand hört zu, wenn sie davon spricht. Niemand versteht. Nacht, die immer schweigt.

Das Schicksal hat sie zur Nichtvergesserin ausgewählt.

Soll sie dem Schicksal etwa dankbar sein für diese zweifelhafte Ehre?

Wieviel Mal hat sie es angeklagt.

Es ist ein wunderschöner Tag, sie denkt an nichts Schlimmes, freut sich des Lebens, und

plötzlich bricht eine Flut von längst vergangenen Alpträumen über sie her, ein rasendes

Düsenjägergeschwader von Haß, frisch aufgetankt im Reservoir Gedächtnis.

…Prügelnde Männerhände auf Kleinmädchenhaut! Nackt eingeklemmt zwischen Vater‘s

Schenkeln! Gefangen! Wehrlos! Rotz wild ins Gesicht gemalt! Von allen verlassen! Einge-

sperrt im Dunkeln! Die Tür verriegelt! Niemand kommt, es retten…


Sie wehrt sich und wird schon mitgerissen von den Risenwellen. Mit ihnen nähern sich

Stimmen, die sie seit Kindertagen bedrängen.

»Hat denn niemand diese Tür geöffnet, um das Kind zu retten?«

»Niemand hat diesen Vater Besinnung gelehrt?«

»Warum nicht ein Nachbar angezeigt?«

Empörung füllt jede Pore.…

»Sie müssen es doch alle gehört haben!«

Fassungslosigkeit in jeder Zelle…

»Wo ist eigentlich die Mutter gewesen?«

»Warum hat sie ihr Kind nicht beschützt?«

Stille…

Dann haucht mit schwindelerregender Sanftheit die letzte Stimme in ihr Ohr:

»Weißt du nicht? Die Welt ist bewohnt von einem großen Volk, das da heißt Niemand.«

Sie kennt diese Stimmen. Nur sie kann sie hören. Sie reden und reden in ihren Kopf hinein

und verstummen nicht:

»Niemand hat den Mut gehabt, dem Vater Verantwortung beizubringen.«

»Niemand hat ihn dafür angeklagt!«

»Hätte er das gleiche mit einem fremden Kind getan, wäre er hinter Gitter gekommen…«

Warum ist das beim eigenen Kind anders?

Ihr Grübeln trägt sie fort. Sie ist allein mit der Erinnerung. Die Stimmen geben keine Ruh.

Sie leidet an der Einsamkeit. Niemand teilt mit ihr, was geschehen ist, obwohl die Eltern

noch nicht gestorben sind. Eine winzige Geste der Erschütterung aus deren Mund und sie

wäre geheilt gewesen. So hat sie es sich oft vorgestellt, und längst aufgehört zu warten,

schließt sie dennoch ein Wunder nicht aus. Wie durch einen Zauber haben sie alles ver-

gessen, was häßlich war, und das Kind allein bei den Bildern zurückgelassen. Dort sitzt es

noch immer und weint.

Niemand weiß, wie krank es ist vor Schmerz.

…der geliebte Vater blickt wie ein Ungeheuer, trampelt in wilder Raserei über das Bett,

reißt keuchend die eingerahmten Fotogra en glücklicher Tage von der Wand, zerschlägt

sie auf dem zuckenden Häu ein von Kind. Das Glas klirrt auf der Bettkante, das Holz des


Bilderrahmens berstet auseinander, schwerelos schwebt das Schwarzweiß-Foto zu Boden,

das lächelnde Antlitz des Kindes, als es zehn Wochen alt war. Die großen Füße des Unge-

heuers stampfen es jetzt in den Boden, aber es hört nicht auf zu lächeln, schaut unbeirrt

unter den Fußtritten hervor, als könnten sie ihm nichts anhaben, und lächelt glücklich in

die Welt…

Der Vater hat dieses Foto einst gemacht. Das zehn Wochen alte Töchterchen im Kinder-

wagen strahlt den fotogra erenden Vater an! Er lacht entzückt zurück. Sein erstes Kind!

Es ist wie ein Wunder für ihn.

…ein paar Jahre später macht das Lächeln den Vater rasend. Zum Ungeheuer mutiert, übt

er an der Fotogra e, was er noch vorhat. Er plant es nicht mit dem Willen, nicht mit Ver-

stand, es sind andere Kräfte, die ihn treiben. Wut! Hass! Zorn! Emotionen aus alter Zeit.

Das Kind ahnungslos weiß nicht, warum es solche Strafe erhält. Was immer es getan ha-

ben mag, es kann nur nichtig sein neben Vater‘s Gebaren. Seine Hiebe treffen überall, wo

es weh tut. Todesangst! Der Vater kennt keine Grenzen mehr, prügelt und schüttelt den

zierlichen Körper und wirft ihn schließlich an die Wand. Mit dumpfem Ton prallt der

Kopf auf die Härte des Steins, das Kind erschrickt, heult auf, verrückt vor Angst. Das Un-

geheuer reagiert sogleich, straft es giftspeiend für das Geschrei. Ein Kind hat kein Recht,

solchen Lärm zu machen. Auch nicht vor Schmerzen. Es soll sich schämen! Ja, schämen

soll es sich oder…

Sterben?

»…schämst du dich?!« Der Vater brüllt mit entgleisender Stimme, in den Mundwinkeln

Schaum. Er ist der Stärkere, wird immer der Sieger sein. Er duldet keinen Widerstand. Das

ungezogene Kind wird es schon lernen! Er wird ihm Gehorsam beibringen, denn er will ja

nur das Beste…


Erinnerung kann grausam sein.

Die Nichtvergesserin windet sich. Den Gedanken und Stimmen kommt sie nicht aus, Fra-

gen und Antworten, die unverdaulich sind.

»Warum hat sich der Vater nicht in die Lage seines Kindes versetzt? Warum nicht in das

ganze Drama hinein vertieft?


»Ihm fehlt der Mut dazu!«


»In seinem Innern tobt sein eigenes Drama, alt und unerlöst…«

»…es muß versteckt bleiben, damit die gewohnte Ordnung seiner Welt nicht zusammen

bricht.«

»Was ist eigentlich mit der Mutter? Wo ist sie bloß?«

…Die Mutter kommt nicht, obwohl das Kind nach ihr ruft. Der Vater hat es eingesperrt im

Kinderzimmer ohne Licht. Totenstille bis es wieder schreit. Brüllen. Toben. Stampfen.

Nichts hilft. Allein. Niemand weiß, wie elend es sich fühlt. Das Kind hat alles verloren,

was es braucht für seine kleine Existenz. Niemand ahnt sein Entsetzen…

Die Mutter eilte nicht herbei. Auch nicht hinterher, um ihr Kind wenigstens zu trösten.

»Liebte sie etwa nicht ihr Kind?«

»Ist so wenig Bindung da?«

Die Stimmen rufen von überall her.

»Was empfand die Mutter?«

»Fühlte sie nicht den Schmerz ihres Kindes?«

»Wie ist das möglich, eine Mutter…«

Auch ihr fehlt der Mut. Niemand wird das Kind vor Ungeheuern und Dämonen beschüt-

zen. Sie greifen nach ihm, werden es mitnehmen in den tiefen Abgrund, wo es ausweglos

nster ist.

…Die Haut brennt von den Schlägen und das Gesicht vom Salz der Tränen! Nie wird das

Kind vergessen, wie der Rotz schmeckt, wie es vergeblich auf die verschlossene Tür starrt

und wartet. Durch das Schlüsselloch

ießt eine Kinderhandvoll Licht. Auf der anderen

Seite be ndet sich die ersehnte Welt, zu der gehört es nicht mehr. Dem Horror ist es aus-

geliefert. Allein! Weit weg von Mama und Papa! Die Verbindung ist durchtrennt, unwie-

derbringlich, nie wieder zu icken. Das Kind verliert den letzten Halt, stürzt durch den

leeren Raum voll Finsternis, wo überall Dämonen lauern. Niemand wird dort sein, es an

die Hand zu nehmen. Niemand will ihnen begegnen…

Niemand will mit den Dämonen leben. Sie tut es, weil sie muss.


Erinnerung kann grausam sein.


Die Nichtvergesserin denkt es jeden Tag. Warum kann sie nicht aufhören, sich daran zu

erinnern? Nicht alles will sie vergessen, nur das, was eine Plage ist. Es gab auch schöne

Dinge, viel davon, und wunderbare Kinderwelt-Mysterien-Momente. Doch sobald die Er-

innerung an Ungeheuer und Dämonen sie wie aus dem Nichts befällt, ist das Gute ausra-

diert.

Wann es zum ersten Mal passierte, dass der geliebte Vater zum Ungeheuer mutierte, weiß

sie nicht. Soll sie froh sein, dass sie das vergessen hat? Niemand wird es ihr je sagen, sie ist

die einzige mit Erinnerung. Die anderen haben die Ungeheuer einfach aus dem Gedächt-

nis geschmissen.

Die erste Hölle, die sie erinnert, führt zurück zum fünfjährigen Leben des kleinen Mäd-

chens. Sie sieht es deutlich vor sich, weiß sogar den Wochentag. Ein Sonntag! Auf dem

Familien-Protokoll stand: heile Welt. Um jeden Preis! Die Großmutter zu Besuch kehrte

die Familie gerade vom stets langweiligen Sonntagnachmittagsspaziergang heim, man

wollte noch Kaffee und Kuchen zelebrieren. Jeden Samstag buk die Mutter für Sonntag

einen Kuchen, bei Besuch gab es den sogar mit Schlagsahne.

»Schlag-Sahne! Wie gruselnd wahr.«

…Die Fünfjährige, von dem verzweigten Muster des Kunstperserteppichs im Wohnzim-

mer völlig in Bann gezaubert, nahm den väterlichen Befehl kaum wahr. Es solle sofort die

Schuhe ausziehen, so gehöre sich das! Das Kind hypnotisiert von den Teppichmustern

widersetzte sich keineswegs, dachte nur

üchtig: Die Schuhe sind ja noch ganz sauber.

Wie sollten sie beim Sonntagsspaziergang mit Vater, Mutter und Oma schon schmutzig

werden? Das Schuheausziehen blieb ignoriert, die Muster des Teppichs wirkten mit stär-

keren Mächten, entführten die Fünfjährige in fantastische Welten…

Was dann folgte, war der vielmals erlebte Gang zur Hölle.

…Kind ins Kinderzimmer zerren, Tür zuschlagen, dem Kind die Kleider vom Leib reißen,

es splitternackt zwischen die Schenkel klemmen und verprügeln, dann Rolladen herunter-

lassen, Strafen für die folgende Woche aufzählen, Drohungen ankündigen, Kind für den

Rest des Tages und die ganze Nacht ins dunkle Zimmer sperren… Mitten in der Schlacht

el draußen plötzlich die Wohnungstür krachend ins Schloß. Nicht etwa ein Windstoß,

sondern eine wutentbrannte Hand hatte sie zugeschlagen. Den prügelnden Vater, augen-


blicklich gewahr, daß soeben seine Mutter die Flucht ergriffen hatte, brachte das alarmie-

rende Geräusch leider nicht zur Besinnung, sondern noch mehr in Rage. Er bestrafte das

Kind dafür. Als erwachsener Mann der Mutter nachzulaufen, wäre allzu peinlich gewe-

sen. Was hätten da die Nachbarn gedacht, die ihn für einen so anständigen, ja beneidens-

werten Mustermann hielten. Er rauchte weder noch trank er, nach der Arbeit kam er so-

gleich heim zu Frau und Kindern, grüßte hö ich lächelnd jeden, der ihm begegnete, und

zur Krönung der makellosen Vorbildlichkeit ließ er keinen Sonn- und Feiertag aus, um mit

der gesamten Familie in den Gottesdienst zu marschieren…

Gerade nach dem sonntäglichen Kirchgang ist es oft passiert. Als müsse etwas ausgegli-

chen werden. Noch bevor die Mutter das Mittagessen aufgetragen hatte, lag die Welt der

vorbildlichen Sonntagsfamilie jäh in Trümmern. Was für eine teu ische Mixtur: Den Ge-

schmack des heiligen Sakraments noch auf der Zunge und schon das Brennen auf ge-

schlagener Haut!

»Gott liebt die Menschen!« hat der Pfarrer in der Kirche gepredigt.

»Mich liebt Gott nicht!« hat das kleine Mädchen atemlos gedacht.

»Wer sah den Rotz und die Tränen?« üstern unaufhörlich die Stimmen aus allen Welten.

…Schluchzend hing es an der verschlossenen Tür, nach seiner Mama bettelnd, immer lei-

ser vor Furcht, statt ihrer könnte der Vater als Ungeheuer zurückkehren. Doch die Tür

bewegte sich nicht, war einzige Zeugin solcher Trostlosigkeit, mit der schlimmsten aller

Verzwei ungen besudelt. Draußen bangend die handlungslose Mutter. Daß sie die Tür

hätte öffnen können, um ihr Kind vor dem väterlichen Mißbrauch zu bewahren, kam ihr -

aus welchen Gründen auch immer - nicht in den Sinn; nur das Kind hatte sich innigst

vorgestellt, sie würde es endlich tun…

Sie hat es nie getan.

Das Kind hat es nie verstanden. Die ersehnte Mutterliebe blieb unerfüllt in der Hoffnung

stecken. Zu Tage trat eine niederschmetternde Wahrheit: Alles, was die Mutter tat, war ihr

ängstliches Flehen.

»…bring sie nicht um!« rief sie an die geschlossene Tür, hinter der ihr Mann die kleine

Tochter schlug, »…um Gotteswillen, bring sie nicht um!«

Das war ihr ganzer Muttermut.


Sie wollte unschuldig bleiben, mußte. Warum um jeden Preis?

Jedenfalls blieb es dabei.


»Warum ist ein Wahnsinniger wahnsinnig geworden?« fragen diejenigen, die solchen

Gemütszustand nicht kennenlernen.

Hat er etwas Schlimmes einfach nicht mehr aushalten können? Nur im Wahnsinn Schutz

gefunden?

Wohl kaum einer, dessen Gemütszustand sonderlich getrübt wurde, kann solche Fragen

stellen, wohl kaum wird es der wagen zu tun, der alles vergessen hat.

Das kleine Mädchen, inzwischen im Körper einer alten Frau, kennt den Werdegang.

…Weil niemand kommt, es zu retten, dreht das Kind durch. Der Wahnsinn hat es in seine

Arme genommen. Das Kind ist jetzt ein kleiner Wurm in Mädchenkörpergestalt. Die Mu-

tation bietet Schutz und Trost. Und ist ebenso verhängnisvoll: Der Wurm hat nichts zu

verlieren - außer sein nacktes Leben.

»Was für ein Leben?« denkt die Nichtvergesserin in die Nacht, die sie beharrlich umgibt.

»Ein Leben für alle Ewigkeit vom Grauen schwarz gefärbt, nur aufgehellt von grellen Blit-

zen aus Schreckensbildern grausamer Wahrheit und Erinnerung? Niemand kam! Nicht

einmal die Mutter. Das ist die Wahrheit!«

Dabei blieb es, bis zum letzten Schlag. Als die Tochter siebzehn Jahre alt war, genug um

sich selbst zu retten, wehrte sie sich und schlug zurück.

Niemand kam seither und hat der Tochter gratuliert dafür. Niemand…

Was für ein langer Weg bis heute. Aber: Sie lebt!

Die Zwillingsschwester hat es anders gemacht, sie hat vergessen. Eines Tages hat sie aus

heiterem Himmel die Eltern umgebracht - bestialisch ist es geschehen. Alle waren fas-

sungslos. Niemand hat diese Tat verstehen können.

»So eine nette Frau! So eine vorbildliche Familie…« redeten die Leute, »Wie ist das nur

möglich?«


Ihr Haftaufenthalt dauerte nicht lange, sie wurde ins Irrenhaus gebracht, weil sie im Ge-

fängnis einen Wärter erstach. Niemand weiß, wie es mit ihr weiterging. Sie soll einige

Morde an sich selbst versucht haben…

Wer interessiert sich schon für solch einen Wahnsinn?!

»Und die Nichtvergesserin? Sie ist doch die Zwillingsschwester!«

Zwischen den Schwestern war der Kontakt schon lange vor den Morden abgerissen. Die

Nichtvergesserin war der Zwillingsschwester zu anstrengend gewesen mit ihrer ewigen

Bohrerei in die Vergangenheit …



 

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