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Santiago

  • Autorenbild: Sylvie Bantle
    Sylvie Bantle
  • 25. März
  • 6 Min. Lesezeit

Servietten-Lesung


…die Prämiere

am

22.April 2002

aus der Serie ‘Geschichten, die das Le-

ben schreibt‘

von Mandi Shilpa

Mandani Verlag


Santiago


Es war einmal ein Mädchen namens Veronika. Als sie das Lied von

den Rolling Stones hörte, nannte sie sich fortan Angie. Bald verließ

sie das Dorf und machte sich auf in die große Metropole München an

der kalten Isar.

Sie verehrte Marylin Monroe und es gab Zeiten, da hielt sich Angie

für ihre Reinkarnation. Natürlich besaß sie alle Bücher ihrer berühm-

ten Seelenschwester und verliebte sich alsbald in einen Mann, weil er

aussah wie Omar Sharif. Für ihn verließ sie Ehemann und neugebo-

renes Kind und verbrachte ein halbes Leben mit ihm, obwohl sie

nichts anderes mit ihm anfangen konnte, als sein stattliches Aussehen

zu bewundern.

Sie hatte einige Affären und liebte teure Designerklamotten. Aber

nicht alle, ihre Auswahl zielte auf einen einzigen Designer, dem sie

die Verehrung eines Gottes zukommen ließ.

Dann traf sie einen Filmemacher, der sich für Buddhismus interes-

sierte. Da wurde sie Buddhistin, besuchte sämtliche Vorträge und

Veranstaltungen und schon bald ‘nahm sie Zu ucht‘ - wie man die

Aufnahme in solchen Kreisen eben nennt. Der buddhistische Guru

war ein attraktiver Däne im besten Mannesalter, der mit seinen

männlich scharfkantigen Gesichtszügen ebenso für Marlboro oder

Rasierklingen hätte Werbung machen können. Ihm lag sie zu Füßen,

und wenn sie es mit ihrer Fotoagentur einrichten konnte, reiste sie zu

dessen Vorträge nach San Francisco, New York oder Mailand und

manchmal war ihr sogar das göttliche Glück gewährt, ihm ein wenig

näher zu kommen. Einmal hat er ihr sogar ein Kompliment über ihr

Aussehen gemacht.


Ihre Freunde nannten sie Sexy-Angie.

Nach zwanzig Jahren Gemeinschaft war die Zauberkraft von

Omar Sharif‘s Aussehen versiegt, die Langeweile nicht mehr zu igno-

rieren. Obgleich die Trennung im Raum hing wie ein Gewitter, das

nicht zu übersehen ist, zog sie sich Jahre dahin. Es war nicht einmal

mehr genug Leidenschaft zum Streiten da, als warteten beide auf den

rettenden Schub vom Schicksal, das die Veränderung für sie beide

vollbringen würde und neues Glück in ihr Leben brachte.

Der Zufall wollte es, daß Sexy-Angie zu Besuch war bei Agneta,

die einen Franzosen liebte, der in Stockholm lebte. Daß dieser einen

Freund hatte, der halb Franzose halb Südamerikaner war und auch in

Stockholm lebte und Santiago hieß, wußte Sexy-Angie nicht. Noch

nicht.

Doch das Schicksal wollte es, daß sie es bald erfahren sollte. Das

Telefon klingelte, als Sexy-Angie bei einem Gläschen Rotwein mit

Agneta und zwei weiteren Freunden gemütlich auf dem Sofa saß. Es

war ein Anruf aus Schweden, von dem französischen Geliebten. Daß

er gerade bei Santiago sei, erfuhr Agneta von ihm, und daß auch er

mit ihr sprechen wolle…

Während Agneta dann also mit Santiago am Telefon sprach, un-

terhielten sich die Freunde auf dem Sofa über allerlei. Nur Sexy-An-

gie saß wie hypnotisiert da, was allerdings keiner bemerkte. Noch

nicht.

Als Agneta ihr Telefongespräch beendet hatte, fragte Sexy-Angie

wie aus tiefer Trance erwacht: »Wer … ist … Santiago …?«

Sie hatte den Namen gehört und war mit einem Schlag elektrisiert.

Alles wollte sie nun über ihn wissen, es gab an jenem Abend kein an-

deres Thema mehr. Die beiden Freunde gingen um Mitternacht, Sexy-

Angie blieb bis zum Morgengrauen. Agneta mußte ihr alles erzählen,


was sie über Santiago wußte, und weil das nicht viel war, mußte sie

es in atomaren Einzelheiten wiederholen.

»Was?! Er mag Rod Stuart?!« rief Sexy-Angie mit verklärtem Blick,

»Ich liebe auch Rod Stuart!«

Was für ein mysteriöser Zufall! Nein, ein Wunder! Das muß doch

etwas Großartiges bedeuten! Ihre Augen glänzten, sie konnte die be-

rauschende Macht fühlen, die Magie der Liebe. Denn, nicht jeder mag

Rod Stuart, auch Agneta ist nicht unbedingt verrückt nach ihm. Aber:

Santiago liebt Rod Stuart und Sexy-Angie auch… Kein Zweifel also,

daß diese Tatsache von Bedeutung ist. Sexy-Angie spürt es tief in ih-

rem Innern. Pocht nicht ihr Herz ganz anders allein beim Klang die-

ses Namens? Nie zuvor hatte sie diesen Namen gehört, außer als

Städtename natürlich.

»Was?! Er geht im November nach New York?« rief Sexy-Angie

aus und kann es nicht fassen, »Ich iege auch nach New York, am

achtzehnten!« Was hat das Schicksal nur vor mit ihr? Sie muß ihn

treffen, diesen Mann! Ja, sie wird ihn in New York treffen! Wie aufre-

gend…

»Wie sieht er aus?« will sie von Agneta wissen und erfährt, daß er

nicht wie Omar Sharif aussieht. Eher das Gegenteil: Nicht sehr groß,

etwas stämmig, wenig Haare auf dem runden Kopf… Ach, das soll

sie jetzt nicht weiter stören, tröstet sie sich selbst, alles andere ist ja

schon aufregend genug…

»Was?! Er ist beim Film und schreibt Drehbücher?« juchzt sie, »Ich

kann ihm genügend Stoff für seine Stories liefern…«

So geht es bis zum Morgengrauen. Danach fährt Sexy-Angie aber

nicht heim zu Omar Sharif, sondern zielgerade ins Büro in der City,

wo sie mit hüpfendem Teenagerherzen einen wunderbaren Arbeits-

tag verbringt… Santiago! Jede Minute labt sie sich an dem klangvol-


len Nektar und wird nur noch hungriger… Welch ein herrlicher

Rausch!

Die Freundinnen treffen sich in den folgenden Tagen und Wochen

noch einige Male, auch andere Freunde kommen hinzu, doch Ge-

sprächsthema ist und bleibt solange Sexy-Angie anwesend ist: San-

tiago!

Eines Abends ist es genug. Die Ohren sind strapaziert, des immer

wiederkehrenden Wortes überdrüssig. Nach drei Stunden Santiago

erteilt ihr eine Freundin Sprechverbot.

»Wenn du jetzt nicht endlich aufhörst, darüber zu reden, wirst du

noch das letzte Häuchlein zartes Gewebe von Bestimmung und alles

weitere damit zerstören … und das Ganze stellt sich am Ende nur als

ein großes Luftschloß heraus…« erklärt man ihr genervt.

Ach! seufzt Sexy-Angie im Innern und ist sich ganz gewiß, daß

jene Freundin, die so redet, keine Ahnung hat von solchen Dingen.

Daß Sexy-Angie irrt, wird sie erst später erfahren, viel später …

oder gar nicht. Jedenfalls hält sie sich ein wenig zurück, solange jene

Freundin anwesend ist, die ihr ohnehin nur die Freude verdirbt. Aber

kaum ist die Spielverderberin gegangen, fällt sie über Agneta her und

löchert sie mit tausend Fragen über Santiago. Und sie badet in all den

herrlichen Schwärmereien über den geheimnisvollen Lauf der Dinge,

weil sie sich immer mehr in diesen großen Unbekannten verliebt…

Wie aufregend! Ach, wie spannend kann das Leben sein! Sie wird

ihm viel Stoff für seine Filmstories bieten können.

Sie muß unbedingt ein Foto von Santiago haben. In einem Kino-

lm glaubte sie bereits in den Augen eines Schauspielers Santiago‘s

Augen zu erkennen, obwohl sie Santiago‘s Augen noch nie gesehen

hat. Aber solche Dinge lassen sich mit dem Verstand eben nicht erklä-

ren. Als alles nichts nützt, ja selbst Agneta‘s französicher Freund ohne


Foto von Schweden zu Besuch kommt, ergibt sich eine andere Lö-

sung: Santiago hat eine Web-site! Mit einem Foto…

»Ach, und wenn er mir nicht gefällt, kann ich ja die Augen zuma-

chen!« hatte sie noch lachend zu Agneta gesagt, als sie im Geiste das

Treffen mit dem unbekannten Angebeteten in New York durchspielte.

»…und wenn ich nicht sein Typ bin?« überlegte sie laut und Agneta

antwortete darauf: »Er kann ja auch die Augen schließen!«

Die lustige Vorstellung löste Gelächter aus. Dennoch, es war rund-

um ein Blind-date, in jeder Beziehung…

Sie muß in dieser Sache unbedingt noch Karten legen mit Agneta,

die sie mit ihrem Anliegen ohne zu fragen in Beschlag nimmt. Und

weil es den anderen wieder einmal zuviel wird, zieht sich der Rest

der Gesellschaft zurück, einschließlich der französische Freund von

Agneta, der nur für zwei Tage aus Schweden zu Besuch da ist. Aber

nach dem ausführlichen Kartenlegen, egal, daß der Morgen schon

wieder graut, fährt Sexy-Angie in die City, um im Büro den Compu-

ter anzuwerfen und wie in einem magischen Buch Santiago‘s Web-

Seite aufzuschlagen … und zum ersten Mal sein Foto zu betrachten…

Das Ende dieser Geschichte? Es kam schneller als geahnt. Per E-

mail hat sich das Paar bekannt gemacht. Aber es blieb nicht viel Zeit,

allzu lange zu kommunizieren, denn schon bald war der achtzehnte

November. Sexy-Angie og nach New York, wo sie Santiago traf…

Was blieb nun noch der armen Realität, die von rosaroten Luft-

schlössern zugebaut war? Sie hat keine Luft mehr zum Leben ge-

kriegt und ist erstickt.


Fin


Der Mandani Verlag existiert seit Grauen Urzeiten des Menschen, als

noch die Narren die Erde bevölkerten und den ganzen Tag nichts anderes

taten, als sich des Lebens zu freuen.



 

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