top of page
Suche

Schlaf

  • Autorenbild: Sylvie Bantle
    Sylvie Bantle
  • 25. März
  • 8 Min. Lesezeit

Schlaf …

der kleine Bruder des Todes

Ich kann nicht schlafen…


Genauer gesagt, ich kann nicht einschlafen. Nein, nein,

es ist nicht, was ihr meint! Ich habe keinen Kummer und

auch keinen Streß. Da sind keine aufgewühlten Gedan-

ken, die mich quälen und vom Schlafen abhalten, es ist

ein ganz normaler Tag gewesen. Und Liebeskummer ken-

ne ich schon lange nicht mehr, glücklich bin ich, mehr

oder weniger auch mit meinem Leben.

Natürlich kenne ich gelegentliches Wachliegen, Ein-

schlafschwierigkeiten der normalen Art: Zuviel Arbeit,

Zeitdruck, Auseinandersetzungen, Enttäuschungen …

der übliche Streß eines fortschrittlichen Menschen halt.

Diesmal sind die Einschlafschwierigkeiten von anderer

Natur. Ich habe weder dergleichen jemals erlebt noch

davon gehört, ja wußte bis heute Nacht nicht, daß es

das überhaupt gibt: Ich atme ganz normal, ein und aus,

ein … aus, der Körper ist müde und schwer, aber der

Geist ist hellwach und will aktiv sein, und weil er sich

langweilt, beobachtet er den Körper beim Einschlafen…

Was ist nur Außergewöhnliches geschehen heute? Es

war doch ein ganz normaler Tag gewesen … niemand hat

mich verhext. Wem bin ich schon begegnet? Der Frau

vom Bäcker, einer Nachbarin, dem Jungen von nebenan

… nein, das mit der Nachbarin war gestern gewesen. Sie

rechte gerade das Laub zusammen und klaubte die her-


untergefallenen Walnüsse vom Boden auf, als ich im Gar-

ten Wäsche aufhing.

Gewöhnlich sehe ich nicht viele Menschen. Wenn ich

meine Arbeit verrichte, muß ich alleine sein, sonst

kommt nichts zustande. Es gibt Tage, da gibt es keinen

Grund, die Wohnung zu verlassen. Ich genieße diese Ein-

samkeit. Ich bin eine Einsiedlerin mitten in einer großen

Stadt…

Was ist nur los? Warum schlafe ich nicht ein? Heute

war ein ganz normaler Tag… Niemand hat mich geärgert,

nichts hat mich aufgeregt … was ist schon passiert? Mit-

tags bin ich kurz aus dem Haus gegangen, um Brot zu

kaufen, und auf dem Rückweg begegnete ich dem Jun-

gen von nebenan, der gerade von der Schule heimkam.

Ich bestaunte sein neues Fahrrad, das er zum Geburtstag

bekommen hatte. Sonst habe ich niemanden gesehen,

den ich kenne. Die Frau des Bäckers hat mich heute be-

sonders freundlich angelächelt, das ist mir sofort aufge-

fallen… Ob an ihrem Lächeln etwas nicht stimmte? Was

sollte ein Lächeln schon anrichten können, außer gute

Laune verbreiten! Aber, war nicht in diesen Bäckerinnen-

Augen heute etwas anders … etwas Unheimliches?

Verdammt, warum denke ich so einen Unsinn? Ich

kann nicht schlafen und die Frau vom Bäcker kenne ich

seit dreißig Jahren!

Trotzdem, es ist wie verhext, ich bin todmüde und

kann nicht schlafen. Ich kann mich nicht erinnern, so

müde und zugleich so wach gewesen zu sein. Ein Drama

ist das, wer es nicht kennt, kann es nicht nachvollziehen.


Ich schlafe nicht ein. Was geschieht da mit mir? Habe

ich etwa das Schlafen verlernt? Es war doch ein ganz

normaler Tag gewesen. Was würde ich darum geben,

endlich einzuschlafen und zu schlafen. Wie lange zieht

sich das noch hin? Eine Nacht ist lang, wenn man nichts

anderes tut, als dazuliegen und auf den Schlaf zu war-

ten.

Vielleicht schlafe ich längst und träume, dass ich

schla os bin? Dann ist es ein Alptraum. Aber es fühlt

sich so echt an, die Bettdecke zwischen meinen Fingern,

mein Gewicht auf der Matratze, meine Wange auf dem

Kopfkissen…

Ich setze mich auf und tue es wirklich, ich träume also

nicht. Im Finstern erkenne ich die Umrisse des Schlaf-

zimmers. Ich greife zum Wecker. Er liegt schwer und kalt

in meiner Hand, ich spüre die Vibration des Tickens auf

meiner Haut. Das ist kein Traum! Wenn ich ihn jetzt auf

den Boden werfe, wäre er kaputt…

Im Traum habe ich das schon einmal getan … am

nächsten Morgen dann stand er unversehrt an seinem

Platz neben dem Bett und ich hatte verschlafen. Das ist

lange her, einige Jahrzehnte. Ich war noch ein kleiner

Lehrling und das frühe Aufstehen war mir solch ein Greu-

el gewesen, daß das Weckerläuten eines Morgens den

Traum auslöste: Ich packe den Wecker und schmettere

ihn wütend zu Boden; damit hatte der Lärm ein Ende!

Zwei Stunden später wachte ich auf. Natürlich hatte

ich zuerst ein schlechtes Gewissen, aber dann kam mir

der Grund meines Zuspätkommens so menschlich vor,

daß ich überzeugt war, meine Che n würde dafür Ver-


ständnis aufbringen. Was kann man schon dagegen tun,

wenn man so etwas träumt?

Schließlich stand ich vor der Che n und mir war, als

wachte ich jetzt erst wirklich auf. Sie zeigte kein Ver-

ständnis und ihre Antwort war eine eiskalte Dusche. Mei-

ne Entschuldigung sei eine Unverschämtheit! wetterte

sie und verlangte von mir, die versäumten Stunden am

Abend nachzusitzen. Als ich ihr freundlich vorschlug, sie

könne mir die paar Pfennige von meinem Lehrlings-Lohn

abziehen, stürzte sie wie eine Furie auf mich und schrie

mir aus zwei Zentimeter Entfernung ins Gesicht: Für die-

se bodenlose Frechheit, müsse sie mir fristlos kündi-

gen…

Ach, wie weit das weg ist! Es war tatsächlich im letz-

ten Jahrhundert gewesen. Sogar im letzten Jahrtausend.

Im Hier und Jetzt ist es drei Uhr nachts. Ich schlafe nicht,

sondern sitze hellwach im Bett. Folglich kann dies auch

kein Traum sein! Zum Beweis stehe ich auf und gehe zur

Toilette. Alles ist echt, die Klospülung, meine Schritte,

die Kälte an meinen Fußsohlen, dann, zurück im Bett, die

Wärme unter der Decke … wie gemütlich, jetzt werde ich

bestimmt bald einschlafen.

Ich höre mein Atmen … es geht schon wieder los!

Unwillkürlich lausche ich meinem Atmen. Einatmen …

Ausatmen… Es bohrt sich tiefer und tiefer in mich hinein,

wird schwerfälliger, langsamer … wie eine Pumpe, die

allmählich zum Stehen kommt … mein Körper ist todmü-

de, hat kaum mehr Kraft zum Atmen, wird schwächer

und schwächer, entschwindet in das Nichts… Aber mein

Geist beobachtet das alles, sieht genau, was geschieht…


Ich erschrecke. Es ist als zerreißt es mich in der Mitte,

da der einschlafende Körper und dort gegenüber der

kristallklare beobachtende Geist. Das ist unheimlich!

Habe ich das Einschlafen verlernt?

Ich seufze, atme wieder schneller, was mich beruhigt,

weil ich weiß, daß ich noch atmen kann. Irgendwie hatte

ich Angst gehabt, ich, nein, mein Körper würde aufhören

zu atmen. Ich beginne von neuem, schließlich will ich

jetzt endlich schlafen.

Ich höre mein Atmen … Halt, diesmal werde ich das

Atmen ignorieren! Der Körper hat ja das ganze Leben

ohne meinen Willen geatmet. Es herrscht Stille. Ich atme

ein. Stille. Ich atme aus. Stille…

Diese Stille zwingt mich geradezu, meinem Atmen zu-

zuhören! Mein Atmen ist das einzige Geräusch. Wie war

das denn sonst immer beim Einschlafen? Es ist doch jede

Nacht still und mein Atmen ist das einzige Geräusch!

Ver ixt, was ist nur los mit mir?

Ich höre, wie mein Körper atmet, tiefer, schwerer,

langsamer. Es bin nicht ich, die atmet, es ist mein Kör-

per. Wie müde er ist, wie kraftlos … ich dagegen schaue

ihm zu von der Ferne, aber ich bin hier und er ist bereits

so weit weg…

Ich erschrecke, atme schneller, froh, daß ich atmen

kann. Dann geht alles wieder von vorne los. Das Langsa-

merwerden des Atmens macht mir Angst. Ich kann es

nicht ertragen, zuzusehen, wie meinem Körper die Kon-

trolle entweicht. Wenn das so weitergeht, werde ich nie

einschlafen! Und wenn ich nie wieder einschlafe, werde


ich nie mehr schlafen und nie mehr träumen … dann

werde ich verrückt werden und sterben…

Kein Mensch überlebt totalen Schlafentzug, zumin-

dest kein Normalsterblicher. Angeblich können das Er-

leuchtete. Einmal las ich die ungewöhnliche Geschichte

über eine Frau, eine Erleuchtete, die keinen Schlaf mehr

brauchte; die meiste Zeit verbrachte sie mit Meditieren…

Die gleiche Geschichte gibt es auch von einer Erleuch-

teten, die viele Jahrzehnte lebte ohne zu essen…

Es kann nicht sein, daß ich auf einmal erleuchtet bin!

Zwar habe ich mir schon öfter vorgestellt, wie es sich an-

fühlen mag, erleuchtet zu sein, aber so wie ich mich ge-

rade fühle, hat das nicht annähernd damit zu tun. Zeugt

nicht das selige Lächeln der Erleuchteten davon, daß sie

mit allem einverstanden sind? Es muß einen anderen

Grund geben. Wahrscheinlich bin ich krank! Verrückt!

Oder ich träume doch…

Ich will jetzt schlafen, verdammt. Geist, höre auf zu

beobachten, gib endlich Ruhe und gehorche dem Körper,

der müde ist. Folge ihm nach in den Schlaf!

Es nützt nichts. Der Geist hört weder auf mich noch

auf den Körper, er beobachtet das Langsamerwerden

des Atems und behält die Kontrolle. Und gerade als mich

der Schlummer zu sich hinüberziehen will, da schreckt er

mich mit Panik auf und reißt den Körper zurück und gibt

ihm Streß. Schnelles Atmen … Herzklopfen… Was ist ge-

schehen? Beinahe hätte mein Körper aufgehört zu at-

men! Dann wäre ich gestorben…

Was für ein Unsinn! Wie würde denn das klingen: …ist

leider beim Einschlafen verstorben! Oder: …leider beim


Einschlafen verunglückt? …das Einschlafen endete mit

dem Tod…?

Allerdings, so dumm ist der Gedanke gar nicht. Gab es

nicht genügend solcher Fälle? Jemand ging abends zu

Bett und wachte am nächsten Morgen nicht mehr auf?

Meine eigenen Urgroßeltern sind auf diese Weise ver-

schieden. Woher wissen denn wir Lebenden, was die

wahre Todesursache war? Der Tote kann es uns nicht

mehr sagen. Wenn er tatsächlich am Einschlafen starb,

werden wir es niemals erfahren…

Meine Güte, was tue ich da? Ich denke mir absurde

Geschichten aus, anstatt zu schlafen. Was soll ich nur

mit all diesen Geschichten tun? Sie haben schon Berge

von Papier gefüllt, die ihr Dasein nun im Küchenschrank

fristen, weil für eine tolle Schriftsteller-Bücherwand we-

der Geld noch Platz vorhanden ist. Mit dem entsprechen-

den Erfolg wäre dieses Problem gelöst und die Geschich-

ten könnten gebührend untergebracht werden…

Was für ein Jammer für die Geschichten. Das Schick-

sal hat ihnen die Einsamkeit zugeteilt, genauso wie mir.

So haben wir wenigstens die Zweisamkeit, die Geschich-

ten und ich. Manchmal liest ein Freund eine der Ge-

schichten, dann sind wir schon zu dritt. Das ist doch et-

was! Ein indischer Poet, den kaum einer kennt, sagte

einmal schmunzelnd zu mir: »Something is better than

nothing!« Etwas ist besser als nichts! Diese Aussage ist

doch absolut logisch, in sich stimmig, und so wahr…

Was tue ich nur schon wieder?

Die Geschichten lassen mich nicht in Ruhe!


Da wird mir endlich etwas klar: Es gibt keinen Platz

mehr für die Geschichten, deshalb müssen sie sich zwi-

schen Tag und Nacht schieben! Es mag für manche Oh-

ren gewiß ein wenig abgehoben klingen, doch es ist so:

Die Geschichten wollen leben! Wie sonst läßt sich das

Einschlafphänomen von Eingeborenen erklären, deren

Mittelpunkt des Lebens noch die Geschichten sind? Sie

legen sich einfach nieder und sind innerhalb von Sekun-

den eingeschlafen. Ohne wenn und aber! Träumen sie

etwas lustiges, wachen sie unmittelbar auf, erzählen den

Traum dem ganzen Stamm, der sofort wach ist und

lauscht. Dann lachen sie alle und schlafen augenblicklich

weiter. Wahrscheinlich wissen sie am nächsten Morgen

gar nichts mehr davon und glauben, alle hätten dasselbe

geträumt…

Ver ixt, schon wieder lasse ich mich von den Gedan-

ken verführen. Vielleicht sollte ich versuchen, die Sache

mit Nüchternheit zu betrachten. Aber nach all den Ster-

bephantasien ist das nicht mehr leicht. Körper und Geist

sind im Zwiespalt! Führen einen kleinen Krieg! Das sind

die Fakten! Die Frage ist: Warum ist der Körper längst

erschöpft und der Geist hat noch lange nicht genug da-

von herumzuspinnen?

Es war ein Tag wie jeder andere, es ist eine Nacht wie

jede andere! Es ist weder heiß noch kalt und trotzdem

ist alles anders. Der Geist sitzt da und lacht den schwa-

chen Körper aus, der sich nicht wehren kann.

Warum kann er sich eigentlich nicht wehren?

Die Überlegung scheucht mich auf. Die Fährte eines

Auswegs erschnüffelnd schickt sie die Frage an das ge-


samte System. Der Körper bräuchte doch nur seiner

Schwäche nachgeben und einschlafen! Dann muß der

Geist endlich Ruhe geben, weil sein Resonanzkörper

schläft.

Plötzlich erkenne ich klar, was los ist: Es liegt an mei-

nem Ich!

Ich bin es, der dem Geist jetzt kein Gehör mehr

schenken darf! Damit muß nun Schluß sein, sonst leidet

der Körper. Also: Schluß mit den Geschichten, Schluß mit

der Panik beim Atmen! Schluß mit dem Denken! Nun

werde ich meinem Körper gehorchen, mich ihm anver-

trauen, wenn es schon der Geist nicht tut… Womöglich

hat er es nie zuvor getan und wird es nie tun, weil er

umherschweift, während ich schlafe?

Ruhe!

Hier ist die Lösung, es gibt nur einen Begleiter: Mein

Körper! Ich muß mich mit ihm verbünden, damit er mich

sicher durch den Schlaf atmet, so wie er es tausende

Male zuvor getan hat … und erholt ist, wenn der Geist

von seinen Aus ügen zurückkehrt…

Ja, genauso werde ich es jetzt machen



 

Comments

Rated 0 out of 5 stars.
No ratings yet

Add a rating
© Copyright @ Syvie Bantle
bottom of page