Tr ä u m e
- Sylvie Bantle
- 11. März
- 14 Min. Lesezeit

16.7.04
1 - Rechts neben dem Bett lag ein Elefant und schlief. Er war zu meinem Schutz da. Es
muß ein kleiner Elefant gewesen sein, denn ein großer würde ja nie zwischen Bett und
Schrank passen. Ich war erstaunt, daß ein Elefant sich auch hinlegen kann, dachte, Elefan-
ten schlafen im Stehen. Einmal wachte er auf und krabbelte mit den Vorderbeinen auf
mein Bett. Er war liebesbedürftig, wollte kuscheln. Er machte mich sehr glücklich…
2 - Ein großer Raum, Werkstatt, Atelier. Hanna hat sich von Caro Schuster ein paar
Oberteile anfertigen lassen und ist ganz begeistert, weil sie so knapp sind. Ich bin sehr
enttäuscht, daß sie zu Caro übergelaufen ist und sage ihr: »Du hättest mir sagen sollen,
wenn du knappe Oberteile lieber magst!« Caro sitzt da, wie ein Ungetüm ist sie gekleidet,
geschmacklos und häßlich - das ist jetzt Mode! Die Zusammenstellung ist grauenhaft,
nichts paßt zusammen… eine Plastiktischdecke als unförmiger Rock, ein ebenso unförmi-
ges Oberteil aus anderem Material, eine Art Koller-Halsumhang aus durchsichtigem Plas-
tik - erinnert mich an Friseur… Das ganze ist so unschlagbar häßlich, daß ich es nicht
glauben kann, mit welchem Selbstbewußtsein Caro diese ‘Kleidung‘ trägt. Sie trägt es nur,
weil es modern ist, aber es kleidet überhaupt nicht, sondern macht nur häßlich - sie hat
sogar dicke Beine…
3 - Annette und Marcel sind zu Besuch in Deutschland. Es ist draußen auf der Straße,
wo wir uns kurz treffen, es ist Nacht. Die Straße ist nicht in der Stadt, Landschaft ist
drumherum. Sie sind mit einem kleinen, alten Auto da, das sie giftgrün angemalt haben.
Sie haben es etwas eilig, weil sie noch zu Marcels Eltern fahren wollen… Es ist so, wie es
ist - keine Innigkeit und doch… wie beschreiben? …eine alte Nähe ohne sichtbare, spürba-
re Nähe… Gewohnheit? Noch ein bißchen mehr…
19.7.04
Eine Mutter und ein Kind, ein Töchterchen von etwa 7 Jahren? Es sitzt auf ihrem
Schoß. Lange sind die Dinge nicht gut, nicht richtig gewesen. Heute kommen die Dinge
ins Lot, kommt alles in Ordnung nach 1000Jahren… Das Kind war traurig und einsam
gewesen, die Mutter fern und ahnungslos. Doch jetzt wird alles anders, es ist, als erwachte
die Mutter aus ihrem Dornröschenschlaf. Ich bin nicht beteiligt, schaue nur zu und sehe
ein schönes Wunder… Die Mutter singt ein Lied, manchmal auch summend, die Tochter
auf ihrem Schoß ist müde und gibt sich ganz der mütterlichen Zärtlichkeit hin, wird ir-
gendwann einschlafen… die Mutter beginnt, das lange dunkle Haar der Tochter zu ech-
ten… das ist es, was immer gefehlt hat… jetzt ist alles in Ordnung. Ich weiß, daß sie drei
Zöpfe echten wird und daß es genau so richtig ist…
Aus Träumen
Ein Junge (oder ein Mädchen) besitzt die besondere Fähigkeit in seinen Bildern
zu zeigen, was man nicht sieht, bzw. was die Menschen nicht sehen können. Er
macht auch Skulpturen. Je nachdem weinen oder lachen die Menschen, wenn sie
seine Kunstwerke sehen.
‘Aus Träumen kommen die Dinge zu mir…‘ erklärt er den Fassungslosen.
Bisweilen schlägt er manch einen vor den Kopf mit seiner Wahrheit. Z.B. stellt
er einen brav verheirateten Nachbarn mit einer Gruppe von nackten Frauen dar,
was allgemeines Entsetzen auslöst, einschließlich bei den Eltern des Jungen. Es
wird ihm verboten, ‘so etwas‘ zu tun! Doch er kann es nicht lassen und malt heim-
lich weiter.
Je nachdem nden Mutter oder Vater oder Lehrer Zeichnungen von ihm, die
stets etwas geheimnisvolles aufdecken, was immer Empörung der Bloßgestellten
auslöst. Die Raf nierten, wie der Vater, tun es als Unsinn ab und stellen den Geis-
teszustand des Kindes rigoros in Frage.
Die Mutter reagiert mit einer Entsetztheit aus Ignoranz und Unverständnis…
‘Soviel Phantasie…‘ sagt sie über ihr Kind und wendet sich wieder anderen Dingen
zu. Das Kind stellt die Mutter wie einen aufgeblasenen Lufballon dar mit starken
weiblichen Rundungen, der über eine weite Landschaft schwebt… und unten sind
evtl. Kinder sichtbar, die sich in einem Waldhaus verstecken oder gefangengehal-
ten sind…
Er kann aber auch einfach nur ein Gesicht malen, in dessen Ausdruck alles ge-
schrieben steht und sichtbar macht, was man nicht sehen kann. Z.B. die ganze
Traurigkeit eines Menschen…
Die P anzenfrau
Einst lebte eine Frau in der Stadt, die wurde von allen für verrückt gehalten,
denn sie lebte mit ihren P anzen. Sie verreiste nie, weil sie ihre P anzen nicht al-
lein lassen wollte. Und sie sprach mit ihnen, so wie man auch mit Menschen
spricht. Sie unterhielt sich lieber mit den P anzen als mit den Menschen und sagte:
»P anzen lügen nicht, sie sind ehrlich mit dir…«
Und wenn dann jemand darauf erwiderte, daß doch bestimmt nicht alle Men-
schen lügen, antwortete sie: »Jeder Mensch ist unehrlich von morgens bis abends!
Eine P anze aber sagt dir nur, was wahr ist.«
Die kranke Affenmutter
Es war einmal eine Affenhorde, die lebte im Wald. Ein junges Affeneltern-
paar hatte gerade ihr erstes Junges. Schon bald begann der Affenvater, dieses
kleine Affenmädchen wegen jeder Unartigkeit schlecht zu behandeln. Er
schlug es mit den Händen oder nahm einen Stock dazu, brüllte und schrie
das wimmernde Affenkind an, warf es gegen Baumstämme oder stieß es vom
Ast. Die junge Affenmutter ließ es geschehen, wenngleich es ihr nicht recht
wahr. Aber sie tat nichts, um ihr Kind vor den ausholenden Pranken des zor-
nigen Affenvaters zu beschützen.
Da waren auch zwei Affenomas und auch Affentanten, aber keine der
Verwandten griff ein, den jungen Affenvater daran zu hindern, sein Kind so
schändlich zu behandeln.
So ging das über viele Jahre, das Affenmädchen wuchs heran und hatte
bereits unzählige Narben. Bei jeder kleinsten Gelegenheit wurde es von sei-
nem Affenvater verprügelt, und egal, wie schlimm er es trieb, die Affenmut-
ter und keine der anderen Affenmütter schritt ein, um diese Grausamkeit zu
verhindern.
(Vielleicht sollte sich das ganze in einem Zoo abspielen? Z.B.:
Die Besucher stehen erschüttert vor dem Gehege oder der Glasscheibe und
beobachten, wie sich das alles - wie oben beschrieben - abspielt. So geht es
über Wochen. Die Menschen sind so erschüttert, was da geschieht, daß sie
sich zusammentun und eine Initiative gründen, um das Affenkind vor dem
prügelnden Affenvater zu beschützen und sind am Ende erfolgreich…)
Erinnerung (Version I.)
Ich sollte diese Welt verlassen, das war beschlossen worden. Schon mor-
gen sollte ich abgeholt und nach oben gebracht werden. Anfangs war das für
mich kein Problem und ich vereinbarte mit Alexander ein Wort, das wir be-
stimmt nicht vergessen würden, damit wir uns im nächsten Leben wieder
nden konnten. Wir könnten dann dieses Wort mit unserer Telefonnummer
in der Zeitung veröffentlichen, und weil es so bezeichnend für uns war, wür-
den wir es sofort wiedererkennen und könnten uns darauf anrufen. So wür-
den wir uns ganz leicht wieder nden. Im Traum war diese Wort so stimmig
für uns, daß ich keine Zweifel hatte, es später wiederzuerkennen. Ich dachte:
Ich muß es mir merken… ich muß es mir merken…
Es war Nacht. Wir waren in einem Bungalow, ein kleines Krankenhaus,
wo das alles statt nden würde, wo ich abgeholt und nach oben gebracht
werden sollte. Ein paar wenige lagen dort bereits, bereit zum Abholen. Je nä-
her der Zeitpunkt rückte, daß auch ich an die Reihe kam, desto größer wuchs
mein Unbehagen und ich zögerte den Zeitpunkt um einen Tag hinaus. Doch
die Zeit ließ sich nicht aufhalten, näherte sich unaufhaltsam dem Ende mei-
nes Aufenthalts auf der Erde. Da brach mit einem Mal ein immenses Verlan-
gen auf, hierbleiben zu wollen, bei Alexander. Ich wußte zwar, daß auch für
diese Welt das baldige Ende bevorstand, aber ich wollte solange dableiben
und mit den anderen gehen, und vor allem bei Alexander bleiben. Irgendwie
wurde mir der Wunsch gewährt…
Als ich aufwachte, el mir das Wort nicht mehr ein. Es war nur eine sehr
blasse Ahnung zurückgeblieben, ein ‘P‘ und sinngemäß so etwas wie
‘Mandi‘. Obwohl es im Traum so klar und vor allem auch logisch war, konnte
ich mich nicht mehr erinnern! Das erschütterte mich. Wenn ich ein wichtiges
Wort nicht einmal vom Traum- in den Wachzustand transportieren konnte,
wie sollte ich es dann von einem Leben in das nächste bringen?
Und wenn ich es nicht schaffte, würde es Alexander schaffen? Denn einer
von uns beiden müßte sich aktiv erinnern können, damit er das Wort mit der
Telefonnummer in die Zeitung setzte. Dann bestünde die Chance, daß der
andere dies las und sich plötzlich erinnerte. Er würde die Telefonnummer
wählen und das Wort sagen - das Paar hätte sich in dem neuen Leben wieder
gefunden…
Und auch in einer neuen Welt. Denn: Sollte die alte nicht untergehen?
E r i n n e r u n g ( Ve r s i o n I I . )
Eines Morgens, es war ein ganz normaler Tag, erfuhr Rosa, daß sie binnen
vierundzwanzig Stunden diese Welt verlassen sollte. Gleichmütig nahm sie
diese Mitteilung zur Kenntnis. Es war nichts Außergewöhnliches, jemand
sollte diese Welt verlassen und nach oben gebracht werden. So wurde es je-
den Morgen beschlossen. Von wem, das weiß keiner.
Deshalb regte sich nicht das leiseste Gefühl von Weigerung in ihr. Nichts
rebellierte, niemand. Am nächsten Tag würde man sie abholen und nach
oben bringen. So waren die Regeln, allgemein bekannt und durchaus logisch
- wer diese Welt verließ, wurde nach oben gebracht.
Wie es dort oben aussah und was einen erwartete, konnte in der Welt hier
unten nicht begriffen werden. Nur das eine war klar: Wer nach oben gebracht
wird, betritt daraufhin eine andere Welt. Irgendwie beruhigend, obgleich der
Transport von unten nach oben in absoluter Verborgenheit vonstattenging.
Niemandem wäre es eingefallen, je danach zu fragen. Für menschliche Ohren
gab es darauf keine Antwort. Und so war es nicht einmal ein Geheimnis.
Denn Geheimnisse wollen gelüftet werden.
Wie könnte die eine Welt eine andere verstehen? Welten sind nun mal
voneinander getrennt! Da gab es zwar Boten, die zwischen ihnen hinundher
reisten, doch unterstanden sie dem Reich dazwischen…
Es war ein ganz normaler Tag gewesen. Morgen würde man mich abholen
und nach oben bringen! dachte sie, ohne viel daran zu denken. Vielmehr be-
schäftigte sie ein ganz anderer Gedanke: Wie kann sie Karl, ihren Mann, spä-
ter wieder nden?
Schon beim Frühstück besprachen sie die Situation.
»Menach…« sagte sie plötzlich, »…das altägyptische Wort für ‘ewig‘.«
Karl schaute sie fragend an.
»Das ist es!« rief sie aus, »Wir brauchen ein Erkennungswort! Ein Wort,
das wir bestimmt niemals vergessen werden.«
»Ja, das ist eine gute Idee,« antwortete Karl, »aber mit ‘menach‘ hab ich
nichts am Hut, das kannst nur du dir merken.«
Er hatte recht. Sie war die Ägyptologin, er kannte sich mit Theater aus.
Rosa kniff die Augen zusammen und dachte angestrengt nach. Marmelade
kullerte von ihrem Brot, lief zwischen ihren Fingern entlang und tröpfelte auf
die Tischdecke.
»…wir müssen nach einem ewiggültigen Wort suchen, das uns im nächs-
ten Leben wieder zusammenführt…« überlegte sie laut.
Natürlich war Karl von der Idee begeistert.
»Ja… ja…« nickte er, »Es muß das richtige Wort sein…«
Karl hatte recht, es mußte ein Wort sein, das über beide mächtig war, über
ihn sowie über Rosa, und das den Übergang von der einen in die andere Welt
standhielt.
Noch während des Frühstücks el ihnen eines ein, ein starkes Wort, das
ihre Erinnerung niemals verlassen würde. Und so entwarfen sie den Plan für
ihre Verabredung in der anderen Welt. Sie brauchten nur das Erkennungs-
wort mit ihrer neuen Telefonnummer in der Zeitung zu veröffentlichen. So-
bald es dann der andere las, würde er es wiedererkennen…
»Wie einfach!« lachten sie glücklich.
»Du mußt es dir unbedingt merken.« beschwörte sie ihn.
»Nein, ich werde es niemals vergessen!« versprach er ihr.
Kein Zweifel störte ihre Zuversicht. Gelassen sahen sie Rosa‘s Abreise ent-
gegen.
Ein Gefühl von Unbehagen tauchte erst viel später auf - bei Rosa.
Sie legten sich nicht mehr zum Schlafen nieder in dieser letzten gemein-
samen Nacht, jede Minute wollten sie zusammen auskosten. Es wurde
Abend, Mitternacht rückte näher, Stunde um Stunde die bevorstehende Ab-
reise. Morgen wird man mich abholen! dachte sie jetzt - mit Verwunderung,
weil sie daran etwas störte. Aus der Ferne winkte ihr etwas zu: der Ab-
schiedsschmerz.
Sie wollte die Zeit bis zum Abschied hinausschieben. Als es an ng zu
schmerzen, beschloß sie, ihre Abreise um einen Tag zu verschieben. Das ging
ohne Probleme, es war erlaubt, denn es war ihre Entscheidung.
Danach badete sie in Erleichterung, sie war selig! Noch einen ganzen
kostbaren Tag länger würden sie miteinander verbringen.
Die Sorglosigkeit hielt nicht lange an, da meldete sich erneutes Unbeha-
gen. Schon wieder rann die Zeit dahin, wie Wasser zwischen den Fingern.
Das nahende Abschiednehmen wurde übermächtig, zwang den Gleichmut
unter sich. Ein lautes Gefühl meldete sich zu Wort: Ich will nicht gehen! Ich
wollte hier bleiben! Dabei war allgemein bekannt, daß der Weltuntergang
ohnehin kurz bevor stand.
Es sprach nicht die Angst davor, nach oben gebracht zu werden, sie fürch-
tete weder diese andere Welt noch die Strecke dazwischen. Nein, es war nicht
Angst. Es war Karl! Sie wollte nicht von ihm getrennt sein. Warum auch?
Wozu sollte das gut sein?
Bohrende Fragen mauserten sich zu gefährlichen Rebellen.
Und wieder Verwunderung: Wieso hatte ich am Anfang nur so arglos sein
können?
Im Bungalow, wo man auf das Abholen wartete und darauf vorbereitet
wurde, lagen bereits ein paar Männer und Frauen auf weiß überzogenen Bet-
ten, bereits fertig zur Abreise. Wer wollte, konnte sich mit einem Laken zude-
cken. Sie waren wach und wechselten gedämpfte Worte mit dem Nachbarn
oder der Betreuerin. Auch das Licht war gedämpft, und golden, der Raum
gefüllt mit friedlichen Luftmolekülen, so war die Stimmung. Rosa und Karl
schlenderten zwischen den Betten umher, als stünde ihnen alle Zeit zur Ver-
fügung. Sie fühlten sich wohl dort, wie Kinder beim Spielen. Bis Rosa erstarrt
stehen blieb. Gleich komme ich an die Reihe! Es war ein einziger Gedanke,
der von innen ein Sturm losbrach und sie mit nackten Füßen auf kalten Bo-
den stellte. Das Unbehagen wurde unerträglich.
Plötzlich wußte sie, was sie wollte. Selbst wenn dieser Welt das baldige
Ende nahte, wollte sie solange bleiben. Dann würde sie mit den anderen ge-
hen, vor allem mit ihrem Liebsten. Der Wunsch wurde ihr gewährt, sie war
überglücklich. Sie wußte nicht, daß sie träumte.
Als sie erwachte, füllte der Traum ihre ganze Erinnerung. Sie durchsuchte
die Bilder nach dem magischen Wort, vergeblich, es el ihr nicht ein. Sie hat-
te es vergessen! Der Traum hat es bei sich behalten, drüben, die Erinnerung
hat es nicht mit herüber genommen in den Tag. Dazwischen lag eine unge-
wußte Kluft, die sie voneinander trennte…
Sie war enttäuscht. Große Stücke hatte sie auf die Erinnerung gehalten,
jetzt versagte sie schon auf dem Weg vom Traum zum Erwachen. Wer hatte
mich bloß dazu ermutigt zu glauben, die Erinnerung könne sich zwischen
den Welten hin und her bewegen? Dabei schien es im Traum so einfach zu
sein, dieses Wort niemals zu vergessen, es wiederzuerkennen in allen ande-
ren Welten!
Ich grübelte den ganzen Tag. Blasse Ahnungen besuchten mich. Da sah ich
ein ‘P‘, das gefällig war und bei mir blieb. Vielleicht das Zeichen für Pluto? so
deutete ich. Er ist der verborgenste aller Götter… Und ich sah das Wort einer
fernen Sprache, das ich nur zu gut kannte: ‘Mandi‘. Mein Spitzname! Mein
Mann nannte mich so und viele Freunde, sinngemäß heißt es ‘Närrin‘.
Das Ganze erschütterte mich, machte mich ärgerlich. Die Närrin konnte
ich nicht aktzeptieren, das wäre zu einfach. Was für eine Närrin ich bin! Ich
uchte, ver ixt, im Traum schien alles so klar und vor allem auch logisch,
und jetzt spielte der Unsinn mit mir! Warum nicht resignieren? Wenn die Er-
innerung ein so gewichtiges Wort nicht einmal vom Traum in den Tag trans-
portieren kann, wie soll sie es dann von einem Leben in das nächste bringen?
Da winkte mir eine winzig kleine Hoffnung zu: »Hallo Närrin, es genügt,
wenn sich einer erinnert!«
Würde es mein Mann schaffen, sich zu erinnern, dann könnte es klappen!
Er setzt das Wort mit seiner Telefonnummer in die Zeitung, ich lese es und
erkenne es wieder, wähle die Telefonnummer und sage das Wort… Wir hät-
ten uns wieder gefunden, im anderen Leben.
Und auch in einer anderen Welt. Denn: Sollte die alte nicht untergehen?
D i e K l u f t , d i e E r i n n e r u n g f r i ß t (Version III.)
(für Wettbewerb ‘dazwischen‘ eingereicht)
Eines Morgens, es war ein ganz normaler Tag, erfuhr Rosa, daß sie binnen
vierundzwanzig Stunden diese Welt verlassen sollte.
Gleichmütig nahm sie diese Mitteilung zur Kenntnis. Es war nichts Un-
gewöhnliches, jemand soll diese Welt verlassen und nach oben gebracht
werden. So wurde es jeden Morgen beschlossen. Von wem, das wußte keiner.
Daher regte sich nicht das leiseste Gefühl von Weigerung in ihr. Keine
Stimme rebellierte in ihr, niemand in der Welt. Am nächsten Tag wird man
abgehol und nach oben gebracht. So waren die Regeln, allgemein bekannt
und durchaus logisch - wer diese Welt verließ, wurde nach oben gebracht.
Wie es dort oben aussah und was einen da erwartete, blieb dem Ver-stand
in dieser Welt unbegreifbar. Nur eines war klar: Wer nach oben gebracht
wird, betritt eine andere Welt.
Irgendwie beruhigend, obgleich der Transport von unten nach oben in ab-
soluter Verborgenheit vonstattenging. Niemandem wäre es eingefallen, je
danach zu fragen. Für menschliche Ohren gab es darauf keine Antwort. So
war es nicht einmal ein Geheimnis. Denn Geheimnisse wollen gelüftet wer-
den.
Welten sind nun mal voneinander getrennt! Wie könnte die eine schon
eine andere verstehen? Zwar gab es Boten, die zwischen ihnen hinundher
pendelten, doch unterstanden sie dem Reich dazwischen.
Es war ein ganz normaler Tag gewesen. Morgen wird man mich abholen
und nach oben bringen! dachte Rosa, ohne viel daran zu denken. Vielmehr
beschäftigte sie ein anderer Gedanke: Wie kann ich Karl später wieder nden?
Gleich beim Frühstück besprach sie die Situation mit ihrem Mann.
»Menach…« sagte sie plötzlich wie in Trance, »…das altägyptische Wort
für ‘ewig‘.«
Karl schaute sie fragend an. Marmelade kullerte von ihrem Brot, lief zwi-
schen ihren Fingern entlang und tröpfelte auf die Tischdecke.
»Das ist es!« rief sie aus, »Wir brauchen ein Erkennungswort! Ein Wort,
das wir nie vergessen.«
»Ja, das ist eine gute Idee,« antwortete Karl, »aber mit ‘menach‘ hab ich
nichts am Hut, das kannst nur du dir merken.«
Das stimmte. Sie war die Ägyptologin, er kannte sich mit Theater aus.
Rosa dachte angestrengt nach.
»…trotzdem, es muß ein ewig gültiges Wort sein,« überlegte sie laut, »ein
Wort, das uns beiden wichtig ist, damit es uns in der anderen Welt wieder
zusammenführen kann…«
Natürlich war Karl von dieser Idee begeistert.
»Jaja…« nickte er, »es muß das richtige Wort sein.«
Es mußte ein Wort sein, das über beide mächtig war, über ihn sowie über
sie, damit es dem Übergang von der einen in die andere Welt standhielt.
Noch während des Frühstücks el es ihnen ein und so entwarfen sie den
Plan für ihre Verabredung im nächsten Leben. Sie würden dieses Wort mit ih-
rer neuen Telefonnummer in der Zeitung veröffentlichen und sobald es der
andere las, würde er es wiedererkennen und anrufen…
»Wie einfach!« lachten sie.
»Du mußt es dir unbedingt merken!« beschwörte sie ihn.
»Ich werde es bestimmt niemals vergessen!« versprach er ihr.
Kein Zweifel störte ihre Zuversicht. Gelassen sahen sie Rosa‘s Abreise ent-
gegen.
Ein Gefühl von Unbehagen tauchte erst viel später auf - bei Rosa.
Zum Schlafen legten sie sich nicht mehr nieder in dieser letzten gemein-
samen Nacht, jede Minute wollten sie zusammen auskosten. Es wurde
Abend, Mitternacht rückte näher, Stunde um Stunde die bevorstehende Ab-
reise. Morgen wird man mich abholen! dachte Rosa jetzt mit Verwunderung,
weil sie daran etwas zu stören begann. Aus der Ferne winkte ihr etwas zu:
der Abschiedsschmerz.
Sie wollte nicht Abschiednehmen! Lieber die Zeit hinausdehnen. Als es an-
ng zu schmerzen, beschloß sie, ihre Abreise um einen Tag zu verschieben.
Das ging ohne Probleme, es war erlaubt, denn es war ihre Entscheidung.
Sie badete in Erleichterung, noch einen kostbaren Tag mehr würden sie
miteinander verbringen.
Die Sorglosigkeit hielt nicht lange an, erneutes Unbehagen beherrschte die
Sinne. Schon wieder rann die Zeit dahin, wie die Marmelade zwischen den
Fingern. Das nahende Abschiednehmen überwältigte ihren Gleichmut,
zwang ihn gänzlich unter sich. Aufbegehrende Gefühle rotteten sich zusam-
men, belagerten schreiend alles Denken. Ich will nicht gehen! Ich will blei-
ben!
Warum dieses Ringen um Tage, Wochen, Monate? Der Weltuntergang
stand doch ohnehin kurz bevor.
Die aufbegehrenden Gefühle entsprangen nicht etwa der Angst, nach oben
gebracht zu werden. Rosa fürchtete weder die andere Welt noch die Strecke
dazwischen. Nein, es war nicht Angst. Es war Karl! Sie wollte nicht von ihm
getrennt sein. Ihn niemals verlieren. Warum auch? Wozu sollte das gut sein?
Bohrende Fragen mauserten sich zu gefährlichen Rebellen. Und wieder
Verwunderung: Wieso bin ich am Anfang nur so arglos gewesen?
Kein Laut dieser Revolte drang bis zu ihrem Mund, tobte erst im Innern,
wie in der Erde ein Vulkan vor seinem Ausbruch.
Also machten sie sich in der Nacht auf den Weg. Karl begleitete Rosa zum
Bungalow, wo man auf das Abholen wartete und vorbereitet wurde. Ein paar
Frauen und Männer lagen auf weiß überzogenen Betten, bereits fertig zur
Abreise. Wer wollte, konnte sich mit einem Laken zudecken. Sie waren wach
und wechselten gedämpfte Worte mit dem Bettnachbarn oder der Betreuerin.
Auch das Licht war gedämpft, und ein wenig golden. Der Raum gefüllt mit
friedlichen Luftmolekülen, so war die Stimmung.
Rosa und Karl schlenderten zwischen den Betten umher, als hätten sie alle
Zeit zur Verfügung. Sie fühlten sich wohl dort, wie Kinder beim Spielen. Bis
Rosa unvermittelt stehen blieb und erstarrte. Gleich komme ich an die Reihe!
Es war ein einziger Gedanke, der von innen den Sturm losbrach und sie mit
nackten Füßen auf kalten Boden stellte. Das Unbehagen wurde unerträglich.
Plötzlich wußte sie, was sie wollte. Auch wenn diese Welt bald unterging,
sie wollte solange bleiben. Und später mit den anderen gehen, vor allem mit
ihrem Allerliebsten.
Der Wunsch wurde ihr gewährt. Welch ein Glück! Sie wußte nicht, daß sie
träumte…
Als sie erwachte, füllte der Traum ihre Erinnerung. Mit geschlossenen Au-
gen blieben die Bilder lebendig, auch das magische Wort. Es ließ sich aber
nur fühlen, wollte sie es denken, war es verschwunden.
Verzweifelt durchsuchte sie alle Winkel nach einer Brücke dorthin. Vergeb-
lich, das Wort blieb im Dunkeln. Der Traum hat es bei sich behalten, drüben
auf der anderen Seite, dazwischen lag die Kluft, die Erinnerung frißt.
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