Vollmond im Dezember
- Sylvie Bantle
- 26. März
- 9 Min. Lesezeit

Hörspiel für eine Person
…Den Staubsauger im Schlepptau ging sie in die Küche.
Es war Zeit für ihre Medizin und eine Tasse Kräutertee.
Ach, wie gerne würde sie wieder einmal einen kräftigen Cappuccino trinken!
Doch diese Sünden durfte sie sich jetzt nicht erlauben, irgendwann später,
wenn es ihr wieder besser ging…
Sie hatte noch nichts gegessen. Etwas mußte sie doch essen! Aber jetzt hatte
sie keine Zeit, etwas zu kochen!
Ein Stück Pizza von gestern war noch im Kühlschrank. Das würde sie essen,
damit sie wenigstens etwas im Magen hatte. Es war ja nicht viel, das konnte
ihr nicht schaden…
Bis das Wasser für den Tee kochte, verzehrte sie das kalte Stück Pizza. Es
schmeckte scheußlich!
Sie war wirklich krank, jetzt schmeckte ihr nicht einmal mehr Pizza! Viel-
leicht hätte sie die Pizza aufbacken sollen? Aber dieses kleine Stückchen?!
Das lohnte sich ja gar nicht!
Das Wasser kochte. Das kalte Stück Pizza lag ihr schwer im Magen. Sie hätte
lieber nichts essen sollen!
Während der Tee zog, wollte sie duschen und sich ausgehfertig machen.
Doch dann blieb sie bei ihrer Besorgungsliste hängen: Einkaufen, ein Weih-
nachtsgeschenk für den Ehemann, die Blumen für‘s Grab … ihre Mutter! …
Ach, wenn sie das alles nur schon hinter sich hätte!
Der Tee el ihr wieder ein. Ohje, er sollte doch nur zehn Minuten ziehen!
Sie hatte jetzt keine Zeit, einen neuen anzusetzen … und außerdem: die Ver-
schwendung!
Sie trank ihn so, er schmeckte bitter. Sie überwand sich.
Sie war doch nicht zimperlich! Sie konnte viel aushalten!
Indessen sie den bitteren Sud hinunterwürgte, blätterte sie lustlos durch die
Zeitung, die immer noch auf dem Tisch lag. Gedankenverloren las sie zum
dritten Mal den erschütternden Bericht über den dramatischen Tod der japa-
nischen Ehefrau. Und während sie so las, machten sich die Bilder selbständig
… liefen neben dem Geschriebenen einher … und zeigten wie in einem Film
zwischen den Zeilen, was sich ereignet hatte…
Da sah sie im Zeitraffer die jahrelange Qual dieser Frau, deren deutscher
Ehemann ein Doppelleben führte.
Die arme Japanerin litt und litt mehr, bis sie sich aus lauter Verzwei ung ei-
nem Verehrer an die Brust warf … ein paar Wochen nur, denn kaum hatte sie
beschlossen, ihren Ehemann zu verlassen, gestand dieser reumütig auf den
Knien seine Schuld und eroberte sie im Fluge zurück. Es bescherte ihr viel-
leicht die glücklichsten Stunden ihres Lebens…?
Von kurzer Dauer war dieses trügerische Glück, das für Stunden nur an ei-
nem seidenen Faden hing, bis er riß … die Arme! Sie hatte nichts zu lachen in
den darauffolgenden Wochen und Monaten…
Wie hätte es auch anders sein können? Der männliche Stolz des Ehemannes
war bis zur Wurzel verletzt. Er konnte ihr nicht verzeihen, was sie ihm viele
Jahre verzeihen mußte! Er stellte Sonderregeln auf, für sie und für ihn: Er
durfte, was sie nicht durfte … sie durfte nichts! Er war der Boß, das Ober-
haupt nach alten Maßstäben!
…Oder war er einfach nur ein Arschloch?!…?
Eines Tages, man kann es deutlich erkennen, geht die Japanerin bereits leicht
gebückt, völlig gebrochen siecht sie dahin…
In zermürbenden Stunden hatte sie sich zu Rechtfertigungen hinreißen las-
sen, versucht, dem eifersüchtigen Ehemann die Ereignisse zu erklären, be-
teuert, daß sie ihn, und nur ihn liebe, daß sie doch nur aus ihrer Not heraus
gehandelt hatte … aber nun würde sie es bald nicht mehr aushalten, wenn er
sich nicht endlich änderte…
Das hätte sie nicht sagen sollen … und wurde ihr später zum Verhängnis, sie
wußte es intuitiv.
Jedesmal, wenn sie ehrlich wurde, strafte er sie hart dafür. Sie bekam es zu
spüren, daß er sowas nicht hören wollte. Die blauen Flecken an ihrem zierli-
chen Körper warnten sie nachhaltig, üsterten ihr noch Tage danach solida-
risch zu: Sei still! …oder er wird dich dafür töten!
So heuchelte sie im letzten Moment, um dem Tod zu entrinnen, stammelte
ihre ergebene Liebe und absoluten Gehorsam unter seiner Faust, reichte der
Perversion die Hand und fügte sich dem kranken Spiel … nur, um nicht zu
sterben!
Warum entschied sie sich nicht für das Leben? Und verließ dieses Scheusal?
Aber das ist nicht so leicht.
…Die Japanerin sitzt mit ihrem Mann am Küchentisch … beim Abendessen.
Sie sprechen über Alltägliches. Er ist etwas wortkarg und wirkt müde. Sie
hingegen wirkt auf den ersten Blick beinahe heiter, doch dann spürt man
ganz deutlich, daß sie traurig ist, sehr, sehr traurig…
Plötzlich wird das blutunterlaufene Auge sichtbar, das sie notdürftig mit
Farbe kaschiert hat, und unter dem Rock blitzt ein riesiger blauer Fleck auf
ihrem Unterschenkel hervor … und da noch einer, am Arm auch … wie
schrecklich!
Schweigend räumt sie ab, strahlt etwas Untertäniges aus. Sie ist froh über die
Ruhe, die so selten geworden ist.
Er ist aufgestanden und hat drüben im Sessel Platz genommen … er liest Zei-
tung, rülpst ausgiebig, denn er ist ja allein im Wohnzimmer, niemand kann
ihn also hören, höchstens seine Frau vielleicht, aber die klappert mit dem Ge-
schirr, und außerdem: sie sind ja verheiratet!
Der Fernseher wird eingeschaltet und ein wenig gedöst. Die Geräuschkulisse
der Nachrichten und des anschließenden Politreports machen so schön
schläfrig. Wenn er kurz aufwacht, schaltet er um, sucht nach einem anderen
Kanal … und er muß lange suchen, bis er etwas Passables ndet.
Ist wieder mal nichts Gescheites im Fernseher!
Er gibt sich mit einem uralten Western zufrieden, den er schon tausendmal
gesehen hat … er kann sich nicht mehr so recht an die Story erinnern. Muß
ein ziemlicher Blödsinn gewesen sein, der übliche Scheiß halt! Es gibt nur
wenige gute Western, die hat er natürlich alle gesehen!
Seine Frau interessiert sich nicht besonders dafür. Sie schaut sich alles an, je-
den Quatsch … nur Umschalten mag sie nicht! In letzter Zeit sagt sie sowieso
nichts mehr, wenn er umschaltet. Ist auch gut so!
Er gibt die Fernbedienung nicht aus der Hand und döst weiter. So geht es
eine Weile: Er wacht auf, schaltet um, wirft einen Blick zur Mattscheibe und
schläft gleich wieder ein…
Bis er sich wundert, daß seine Frau nicht neben ihm im Sessel sitzt, so wie er
es gewohnt war, nachdem sie die Küche in Ordnung gebracht hat…
Langsam wird er neugierig, was sie draußen macht … hinter seinem Rücken!
Er wird sich ein Bier holen und bei der Gelegenheit nachsehen…
Da sieht er, wie sie telefoniert.
Sie spricht auffällig leise … was hat sie zu verheimlichen? Wie zufällig ist sie
mit dem Gespräch fertig und legt auf, gerade als er eintritt.
Es kommt ihm sehr verdächtig vor, dieses Verhalten! Er stellt sie sofort zur
Rede. Sie reagiert ängstlich, erklärt, sie habe mit der Freundin telefoniert, die
sie beim Einkaufen getroffen und der sie angeboten hatte, morgen auf ihre
Kinder aufzupassen…
So? Davon wußte er gar nichts! Ob es da etwa einen Grund gäbe, ihm das zu
verheimlichen?
Nein, natürlich nicht! Sie wollte ihn nur nicht mit solchen Nebensächlichkei-
ten belästigen…
Er ist sich ganz sicher Lunte zu riechen, kommt in Fahrt.
Wahrscheinlich hatte sie sich bei dieser Freundin mit ihrem blauen Auge
wichtig gemacht und recht schlecht über ihn hergezogen? beschuldigt er sie
geradewegs…
Um Gottes Willen, nein! beteuert sie bereits zitternd, denn sie kennt diesen
irren Blick ihres Mannes, der nun nicht mehr zu bremsen ist.
Und warum sie überhaupt Zeit hatte, morgen auf die Kinder irgendwelcher
Freundinnen aufzupassen? will er wissen und kommt ihr bedrohlich nahe.
Sie riecht die Gefahr, muß nun besonders achtsam sein, was sie sagt, denn al-
les kann jetzt gegen sie verwendet werden.
Wo die Antwort bleibe?! Ob sie ihm nicht mehr antworte? brüllt er bereits.
Oh Gott, steh mir bei! üstert sie stumm und beeilt sich zu antworten.
Sie habe sich für ein paar Tage krank gemeldet, beginnt sie kleinlaut, als ob
sie dazu kein Recht hätte.
Da bricht schon mit aller Gewalt das Gewitter los.
Ha! Jetzt posaunt sie schon ihr Eheleben im Konservatorium herum, damit es
ja alle Leute wissen, daß sie von ihrem Mann verprügelt wird und sie sich
schön bemitleiden lassen kann … schmutzige Wäsche waschen, was?!
Schaum tritt ihm aus dem Mund, er holt zu einem ersten Warnschlag aus, sie
fällt um, weil sie darauf noch nicht gefaßt war.
Jetzt schreit sie und ist nach dem ersten Wort schon heiser.
Sie habe ihrem Vorgesetzten gesagt, daß sie sich nicht wohl fühle und sei ex-
tra deswegen heute beim Arzt gewesen…
Er läßt sie nicht ausreden, denn das, was sie sagt, bringt ihn zur Weißglut.
Auch noch dem Arzt etwas vorheulen von ihrem bösen Mann?! Sie könne
ihm doch nicht weismachen, daß er ihre blauen Flecken nicht bemerkte?!…
Sie hätte ihm versichern können, daß sie dem Arzt erzählte, sie sei vom Fahr-
rad gefallen undsoweiter, doch wozu das alles? Es würde nie aufhören! Wö-
chentlich, ja gar täglich würde er ihr die Hölle heiß machen, ihr Leben lang
diese zermürbenden Szenen, gegen die sie sich doch nicht wehren kann
… oder sollte sie weggehen und ganz von vorne anfangen, allein, ohne Geld,
ohne einen Mann…?
Sie hatte keine Kraft mehr! Ihre Kraft reichte gerade noch, um zu sterben…
Sie gab auf.
Es tat gut zu wissen, daß sie endlich frei war. Kein Heucheln mehr, kein reu-
mütiges Füßeküssen, keine Demütigungen, die sie so sehr anwiderten. Kein
Betteln mehr um dieses bißchen Jammerleben! Sie würde ihn nie wieder um
ihr nacktes Leben bitten, nie wieder! Er konnte nun mit ihr tun, was er woll-
te! Sie hatte sich nämlich von ihm, diesem Scheusal, aus dem Leben bereits
verabschiedet! Doch bevor sie endgültig ging, würde sie ihm all ihre Wut
und ihren Haß gegen ihn ins Gesicht schleudern, würde ihm mit letzter Kraft
sagen, was für eine jämmerliche Kreatur er sei, daß sie ihn belogen hatte,
denn die ganze Welt wußte inzwischen, was er mit ihr anstellte, und würde
ihn verachten für seinen schäbigen, primitiven Charakter…!
Sie kann nicht verhindern, daß er sie halb ohnmächtig prügelt, und sie kann
auch nicht zurückschlagen, dazu hat sie viel zu wenig Kraft. Gegen ihn ist sie
eindeutig die Schwächere! Aber sie kann ihm ins Gesicht spucken, voller
Verachtung die peinliche Wahrheit hinausbrüllen, so laut, daß es die Nach-
barn hören. Nichts hindert sie mehr, ehrlich zu sagen, was sie von ihm hält,
von diesem triebhaften, kleinen, fetten, unbeherrschten Primitivling!! Gera-
dezu bemitleidenswert, daß er, ein starker Mann, es nötig hat, eine kleine,
schwache Frau zu schlagen. Daran erkennt man die größten Feiglinge! bringt
sie gerade noch ächzend hervor, zusammen mit viel Blut, das ihr aus dem
Mund quillt.
Dann sackt sie bewußtlos auf den Boden und kann kein Wort mehr sagen…
Wie von Teufeln besessen trampelt er auf ihr herum, weil sie sich totstellt. Er
wird ihr diese Spirenzien, wie er es nennt, schon austreiben! Jaja!! Eine her-
vorragende Schauspielerin ist sie! Mehr nicht! Und eine eingebildete oben-
drein!
Ein furchtbarer Schmerz weckt sie auf. Sie stöhnt laut. Es ist, als zerreiße ihre
Eingeweide. Es ist nicht auszuhalten.
Ohnmacht erlöst sie für einen köstlichen Augenblick … wann bin ich endlich
tot?
Sie kommt wieder zu sich, weil sie Blut spuckt. Es würgt sie erbärmlich. Sie
hustet, hat keine Kraft zu husten. Sie muß sich übergeben und kotzt das gan-
ze Abendessen in blutiger Zusammensetzung über sich drüber und auf den
Boden. Sie kann nicht mehr sehen, wohin es geht, ihre Augen sind zuge-
schwollen. Sie spürt die warme Masse auf ihrer Haut, die von den Schlägen
brennt … Bald ist es vorbei, jetzt kann es nicht mehr lange dauern, dann hat
sie es geschafft…
Es schürt seinen Zorn noch mehr, weil sie so eine Sauerei macht. Sie will ihn
wohl noch mehr provozieren?! Aber das Theater hilft ihr nicht viel! Es scha-
det ihr nur! Da!! Er verpaßt ihr einen Zuschlag und noch einen. Er donnert
ihr die halb geleerte Bier asche über den Schädel, aber das spürt sie schon
nicht mehr.
Immer muß er sich von ihr verarschen lassen! Immer wird er nur verarscht!
Jeder meint,man könne ihn so leicht verarschen!! Das läßt er sich jetzt nicht
mehr gefallen!
Im Küchenschrank steht eine Flasche Schnaps. Die schnappt er sich, nimmt
einen kräftigen Schluck, trinkt sich Mut an … kommt zurück.
Er fühlt sich schon lange mutig! So nicht! spuckt er verächtlich, nein, mit ihm
nicht! Er wird es ihr schon zeigen! brüllt er zum hundertsten Male und setzt
wieder die Flasche an.
Das ekelerregende Häu ein Elend zu seinen Füßen regt sich, setzt sich in
Bewegung, robbt schwerfällig in Richtung Schlafzimmer. Er hilft diesem ge-
schundenen Körper mit heftigen Tritten vorwärts, bis es im Bett landet, wo es
leblos liegenbleibt…
Jetzt bist du wirklich krank! Krächzt er inzwischen fast stimmlos. Jetzt lohnt
sich die Krankschreibung wenigstens!
Er spuckt genugtuend auf sie.
Soll sie doch verrecken, dieses Luder, dann ist endlich Ruh!
Und geht zurück in die Küche zu seiner Schnaps asche, die er vollkommen
leernuckelt vor lauter Ärger. Er vergißt, was ihn so aus der Fassung gebracht
hat. Der Rausch betäubt allen Haß und entläßt ihn in einen tiefen Schlaf…
Erst im Morgengrauen wird er von einem merkwürdigen Geräusch geweckt.
Er wundert sich, daß er nicht im Bett liegt. Er ist noch angezogen! Und sitzt
auf einem Stuhl in der Küche. Es stinkt fürchterlich. Am Boden entdeckt er
das blutige Geschmier vom Vorabend.
Aus dem Schlafzimmer dringt ein Röcheln, so als ob dort jemand ersticken
würde…
Plötzlich taucht die Erinnerung auf und macht ihn schlagartig nüchtern.
Er rennt, von einem ungekannten Schrecken gejagt, ins Schlafzimmer, wo es
verheerend aussieht. Da wird ihm das ganze Ausmaß der abendlichen Aus-
einandersetzng bewußt. Seine Frau rührt sich nicht, aber sie röchelt und gibt
Laute von sich. Er merkt, daß es ernst ist, sie spielt ihm nichts vor. Mühsam
versteht er, was sie kraftlos üstert.
…Ich bekomme keine Luft … keine Luft…
Sie röchelt und stöhnt erschreckend.
…ein Arzt…
Er rennt zum Telefon, gehetzt wie ein armes Tier, wählt den Notruf.
…Ein Notarzt! …Ein Notarzt!…
Er tut alles wie in Trance.
Es ist nicht wahr! Es ist nur ein Alptraum…
Seine Sinne sind wie betäubt, obwohl er vollkommen nüchtern beobachtet,
was er da tut. Alles spielt sich seltsam fremd ab. Die Zeit, ein eigenes Wesen,
auseinander gedehnt und zusammen gerafft verwirrt sie ihn total. Er be-
kommt alles mit und kapiert nichts.
Irgendwann ist auf einmal der Arzt da. Wie ein Roboter führt er ihn ins
Schlafzimmer, wo seine Frau auf dem Bett liegt.
Sie wollte nicht mehr so lange warten…
Sie ist tot.
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