Wahrheit
- Sylvie Bantle
- 26. März
- 6 Min. Lesezeit

Die Alten lösen sich auf
(Ausschnitt aus »Lieber blind als sehend«, gelesen am 10.Juli06 bei VS-Slam)
Sepia steht am Fenster und beobachtet eine alte Dame, die vergeblich mit
ihrem Handtäschchen vor der geschlossenen Glastür des Supermarktes steht
und nervös auf der Stelle hin und her tritt, weil sich die automatische Tür
nicht öffnet. Eine moderne Tür ist heutzutage aus Glas, und weil sie
automatisch auf- und zugeht, sind Türgriffe über üssig geworden. Das
bereitet der alten Dame Schwierigkeiten. Ihr ganzes Leben lang hat sie Türen
mit ihren Händen an Griff und Klinke geöffnet und geschlossen. Sie weiß
zwar, dass diese neuen, modernen Türen nun voll automatisch funktionieren,
aber irgendwie will es mit der Kommunikation zwischen der automatisierten
Tür und ihr nicht klappen. Es ist wie verhext, als würde das kleine rote Auge
über dem Türrahmen keinen Impuls von ihrer Existenz empfangen.
…Was muss das für ein Gefühl sein? denkt Sepia, Man ist noch voll da,
aber die Umwelt nimmt einen nicht mehr wahr…
Tief in ihrem Innern polternde Panik. In ihren Ohren Stille.
Die alte Dame starrt vergeblich auf die geschlossene Glastür, will hinein,
um ihr Essen einzukaufen. Sie trippelt nach vorn, seitlich, nichts regt sich.
Schließlich kommt ein kleiner dicker Junge vorbei, der das Malheur erkennt,
fuchtelt ein paar mal mit den Armen über dem Hütchen der Oma und schon
öffnet sich die Tür.
Sepia beobachtet gebannt, was vor dem Fenster alles geschieht, während
ihr Gedanken uss bereits neue Wege einschlägt.
Auszug aus ‘MENACH‘, Teil II/Kapitel 6 -mit veränderten Namen.
(vorgelesen bei Schriftstellerversammlung im Jan.2003)
Wi m m e r n d
Wimmernd blieben die Töchter im Hof zurück. Ein schrecklicher Schmerz zerriß ihnen
die Brust, daß der Vater sie für immer verlassen hatte, nahm kein Ende. Heulend warf sich
Sibet zu Boden und blieb unter einem Schwall von Tränen liegen.
Anubet jedoch beschloß, ihr Leiden zu beenden. Indem sie jedem aufbegehrenden
Flämmchen von Verzwei ung verbissen au auerte und es sofort erstickte, konnte sie sich
allmählich in einen haßerfüllten Zustand retten.
Die Kakerlake, die gerade zwischen ihren Füßen hindurch marschierte, kam ihr
gelegen. Mit einem Stöckchen spießte sie den ahnungslosen Krabbler auf. Wild
strampelten seine Beinchen in der Luft.
Anubet schaute zu. Die Nasen ügel weit aufgebläht, die Lippen fest
zusammengepreßt, der Blick eisern, war sie zu jeder Greueltat bereit. Sie genoß noch eine
Weile das Zappeln und Strampeln ihres Todeskandidaten. Dann riß sie die strampelnden
Beinchen eines nach dem anderen aus und schien sich mit jedem besser zu fühlen.
Zur Gründlichkeit entschlossen, machte sie sich auch noch über die Flügel her und
bald hatte sie dem Insekt alles ausgerissen, was sich bewegte.
Zur Krönung ihrer Vernichtungslust warf sie den hil osen Körper, um alles beraubt,
was ihm zum Überleben gegeben war, einer Ameisenkolonie zum Fraß vor, und
beobachtete abschließend mit genußvoller Genugtuung den prompten Abtransport ihres
sorgfältig mißhandelten Opfers.
Jetzt ging es ihr besser. Viel besser. Der Schmerz war weg.
Sie lächelte mit kaltem Blick…
Der Fischverkäufer erzählt eine geschichte
»Ein Eichhörnchenpaar auf einem Ast des Friedhofsbaum beobachtete, wie unter ihnen
zwei Beerdigungen zur gleichen Zeit stattfanden. Das eine Grab wurde von vielen
Menschen umringt, es war mit einem riesigen Berg aus Blütenkränzen bedeckt. Bei dem
anderen Grab, ohne einen einzigen Blütenkranz, standen nur ein paar Leute.
Das Eichhörnchenpaar wunderte sich, warum die zwei Beerdigungen so verschieden
waren. Warum ist das eine Grab so reich geschmückt und das andere nicht? Was ist der
Unterschied der zwei Toten?
Es beschloss, nachdem alle Leute gegangen waren, nachzuschauen und den Grund
herauszu nden. Also sprang es hinunter und begann bei dem Grab mit den vielen
Blütenkränzen zu graben. Es war bereits dunkel. Plötzlich streckte ein dicker Wurm seinen
Kopf aus der Erde und blickte das Eichhörnchenpaar empört an. ‘Was macht Ihr hier? Das
ist mein Revier!‘ forschte er die zwei Eichhörnchen an. Mit ängstlicher Stimme erklärten
sie ihm ihr Vorhaben und der dicke Wurm erwiderte noch einmal, dies sei sein Revier und
deshalb sei es an ihm, den Unterschied herauszu nden. Später werde er zurückkommen
und ihnen Bescheid sagen.
Eine Weile verstrich, neugierig und gespannt wartete das Eichhörnchenpaar neben
dem Grab. Dann kam der Wurm aus der Erde gekrochen und sagte, er könne nichts
besonderes feststellen. Daraufhin bohrte er sich in das andere Grab, auf dem nicht ein
einziger Blumenkranz lag. Das Eichhörnchenpaar sprang im nach und wartete dort auf
seine Rückkehr. Nach langer Zeit streckte er seinen Kopf aus der Erde und meinte: ‘Da ist
kein Unterschied, beide schmecken gleich!‘
Das Eichhörnchenpaar springt hinauf und setzt sich auf einen Ast zum Schlafen.
‘Siehst Du,‘ sagt der Eichhörnchenmann zu seiner Frau, ‘da ist in Wirklichkeit gar kein
Unterschied zwischen den beiden Toten, nur die Menschen machen einen.‘«
Schäume…
…Träume sind Schäume! so spricht der Volksmund. Die Mythen erzählen, die
Venus sei eine Schaumgeborene…
Haben sie etwas miteinander zu tun? Der Geburts-Schaum der Venus und die
Schaum-Träume im Volksmund? Oder wissen sie etwa gar nichts voneinander?
»Das kann nicht sein!« behauptet die Professorin der Mythologie, die seit Beginn
der Regierungszeit der Moderne im Irrenhaus sitzt.
»Wie bitte? Die Professorin der Mythologie im Irrenhaus?«
»Ja, genau die!«
»Arbeitete sie nicht ein halbes Leben lang an einer Hypothese, die eine
Verbindung zwischen Venusschaum und Traumschaum knüpft?«
»Ja, genau die!«
»Aber ihre Arbeiten waren doch höchst interessant…«
»Psssst! Sind Sie des Wahnsinns?«
»Aber, was ist denn los?«
»Ja, wissen Sie denn gar nichts?«
»Aber was denn?«
»Naja, seit die Moderne an der Regierung ist, wird über solche Dinge wie
Venusschaum und Traumschaum nicht mehr verhandelt… äh, nicht mehr
gesprochen.«
»Aber warum denn nicht? Es sind doch höchst spannende Themen!«
»Psssst! Sind Sie des Wahnsinns?«
»Aber, was ist denn los? Sagen Sie schon…«
»Ja, wissen Sie denn gar nichts? Wo waren Sie all die Jahre?«
»…ich war verreist, …was ist mir denn entgangen?«
»Naja, die Moderne ist jetzt an der Regierung, und da wird die Konzentration
auf zweckvollere Dinge gerichtet als… ich möchte diese sinnlosen Worte nicht
mehr in den Mund nehmen…«
»Was meinen Sie mit zweckvoller und sinnlos…? Sagen Sie, haben Sie Angst?«
»…Angst…?«
»Ja, Angst!?«
»Ha, wovor sollte ich denn Angst haben?!«
»Naja, jedenfalls trauen Sie sich nicht Venusschaum und Traumschaum
auszusprechen!«
»Psst! Sie müssen wahnsinnig sein…!«
»Sehen Sie?!«
»Ach, wissen Sie, es ist doch im Grunde zwecklos. Was soll das schon sein,
dieses …Schaumgerede aus den Mythen, was macht das schon für einen Sinn?«
»…Sinn…?«
»Was macht überhaupt Sinn?«
»Was ist Sinn überhaupt?«
»Ja, genau, was ist es…«
…
Indessen das Volk so redet, setzt die Professorin der Mythologie unbeirrt ihre
Studien in der Irrenanstalt fort. Man läßt sie gewähren, sie ist ja eine Verrückte.
Niemand liest, was sie niederschreibt.
»…Träume sind Schäume! heißt es im Volksmund und in den Mythen heißt es,
Venus sei eine Schaumgeborene… Haben sie etwas miteinander zu tun? Der
Schaum der Venus und die Schäume der Träume im Volksmund? Oder wissen sie
etwa gar nichts voneinander?
…Wenn Venus die Schaumgeborene ist und Träume Schäume… Venus also aus
dem Schaum geboren wurde, dann muß der Schaum vor der Venus da gewesen
sein! Und wenn Träume Schäume sind, muß demnach der Traum vor der Venus da
gewesen sein. Könnte man also nicht ebenso sagen: Die Venus ist eine
Traumgeborene?
Im etymologischen Sinne wird Schaum folgendermaßen de niert: ‘Lockeres
Gefüge aus Luftbläschen und kleinen Substanzteilchen!‘
Substanzteilchen? Luft und Substanz… Die Venus aus Luft und Substanz
geboren…? Und der Traum?
…der Traum ist Schaum… also Luft und Substanz… Was für eine Substanz ist
das? Das ist die große Frage. Die Substanz ist das Geheimnis…«
Die Professorin der Mythologie hält elektrisiert inne. Ihre schreibende Hand
erlahmt, die Heftigkeit der Gedanken legt sie ohnmächtig auf das Papier.
»Substanz…« üstert sie leise, damit es niemand hört, »…hat der Traum diese
Substanz hinterlassen?«
Wahrheit…
Manch einer ist immer wieder unter uns, der besonders große Toleranz
beweisen will und dröhnt:
»Aber, aber, jeder hat doch seine eigene Wahrheit!«
Eine eigene Wahrheit haben? Gibt es das? Kann man sie besitzen, so wie man
ein Haus, ein Paar Schuhe, eine Handtasche je nach Geschmack sich zulegt?
Es ist schwer zu erklären, auch in diesem Fall steht die Wahrheit vor
verschlossener Tür. Und mag sie noch so eindringlich klopfen, sie ist in die
Dunkelheit verbannt, was der Betreffende nicht einmal merkt.
Wie oft habe ich mich von diesen gescheiten Köpfen verwirren lassen und wie
viele Tage und Wochen und Jahre an deren Aussagen herumgekaut?
»Du musst akzeptieren, dass jeder seine eigene Wahrheit hat!« wurde ich
ständig und wiederholt belehrt.
Was für ein zeitraubender Satz! Er hat mich viel Schweiß gekostet. Wie oft
wollte ich als toleranter Mitmensch dann niederknien und demütig akzeptieren?
Doch jedesmal, wenn ich mit dieser Selbstkasteiung begann und die Knie den
Boden berührten, kam Übelkeit über mich. Ich rebellierte. Diese Übelkeit zwang
mich. Ich muss jetzt kurz üstern: »Mir war zum Kotzen!«
Und dann bin ich wieder aufgestanden und habe nachgedacht für weitere
Wochen. So ging es ein paar Jahre: Aufstehen, Nachdenken, Hinknien, Übelkeit,
Aufstehen… Ich konnte nicht begreifen, kaum wollte ich mich dieser Aussage
beugen, stieg eine ungeheure Wut in die Höhe. Wie oft dachte ich, ich müsse mich
besser unter Kontrolle bringen, disziplinieren.
Bis ich begriff, dass diese Wut gar nicht von mir gemacht, sondern aus ganz
anderen Dimensionen zu mir durch mein Innen raste. Es war die Maat, die Göttin
der Wahrheit.
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