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Wunden hinter dem Schweigen – Vaters Tränen

  • Autorenbild: Sylvie Bantle
    Sylvie Bantle
  • 27. März
  • 4 Min. Lesezeit

Nach meiner Geburt wurde ich in einem von Nonnen geführten Krankenhaus von einer

Nonne an einen Platz gebracht, wo man mich nicht gleich sehen konnte – ich wurde

versteckt. Mit einem Makel geboren, einer Lippen-Kiefer- und Gaumenspalte, im

Volksmund als Hasenscharte bezeichnet, war ich eine Zumutung für Mütter von gesunden Babys.


Welche Folgen hatte dieser Geburtsfehler für mich? Die Nahrungsaufnahme war für mich

sehr schwierig, als Baby wurde mir die Lippenspalte operativ verschlossen.

Sprachprobleme u. a. durch eine Störung zwischen nasalem und oralem Resonanzraum,

trotz Gaumen-OP blieb ein hypernasaler Stimmklang. Durch einen ver achten Nasen ügel

bestand eine Krümmung der Nasenscheidewand, was mitunter die Atmung

beeinträchtigte. Für Hals-Nasen- und Ohrenerkrankungen war ich anfälliger. Operationen,

Sprachtraining, spezielle Kiefer- und Zahnbehandlungen bis ins späte Erwachsenenalter

behoben angeführte Störungen zum größten Teil, aber psychische Beeinträchtigungen

konnte man nicht einfach wegoperieren…


Meine Mutter erzählte mir davon, als ich sie mit der Frage bedrängte, wie es ihr nach

meiner Geburt ergangen sei, was sie dachte und fühlte. Erst wollte sie mir nicht antworten, aber als ich darauf bestand und ihr versicherte, dass ich jetzt in einem Alter war, dieWahrheit auszuhalten, antwortete sie mir: »Ich war sehr traurig und habe viel geweint.

Vielleicht ein Gefühl der Scham …«

Was die Nonnen mit mir gemacht haben, verletzte mich nachhaltig. Auf meine Äußerung in meiner Jugend oder später, dass man mich damals im Nazi-Reich gleich in die

Vernichtungskammer gesteckt und vergast hätte, reagierten Freunde und Eltern mit

Entsetzen. Woher kam meine geringe Wertschätzung mir selbst gegenüber? Der Samen

wurde sprichwörtlich in meine Wiege gelegt … Und ng an zu wuchern wie ein Geschwür,

das mein Leben vergiftete, meine Kindheit, meine Jugend. Später Erinnerung an ein

unglückliches Kind. Warum wurde ich in diese Familie hinein geboren? Ein Vater mit

einem Bein, das er im Krieg durch eigene Leute verlor, das andere mit Verletzungen im

Knöchel blieb ihm gerade noch erhalten.

Welche Mühe, welche Anstrengung, sein Leben willentlich zu meistern, um den Schmerz

fern zu halten.

Ich weine seit Jahren die Tränen meines Vaters, was mir erst im Laufe der Jahre bewusst

wurde. Sein Schmerz zog in mein Leben wie selbstverständlich, als sei das völlig in

Ordnung. Wie er leide und litt ich an Depressionen, seit ich denken kann. Dennoch bekam ich nur zu hören, ich sei so negativ eingestellt... Oft dachte ich an Selbstmord. Mit dieser Trauer, mit diesem unsäglichen Schmerz wollte ich nicht mehr leben, weil ich nicht wusste, woher er kam, dieses Leiden an mir und der Welt.


Ein großer Teil meiner Trauer und Tränen gehört nicht zu mir. Nach dem Tod meines

Vaters begann ich mit einer Familientherapie und zugleich kam das Angebot von Sylvie,

beim Brandloch-Projekt »German Angst« mitzumachen. Anfangs verunsichert, wusste ich

nicht, ob ich meine Emp ndungen in eine Tanzperformance wirklich und wahrhaftig nach

außen transportieren könnte. Andererseits reizte mich die Idee, da der Tanz durchaus die

Kraft in sich birgt, den authentischen Gefühlen näher zu kommen als reine Textarbeit es je

vermag. Da war die Angst, dass die Beschäftigung mit dem Thema über den Tanz noch

tiefere Löcher in meine Wunden reißen könnte, obwohl ich wusste, ich wollte die

verschlossenen Türen aufstoßen, hinter der das bleierne Schweigen wohnte. Die Flügel in

bewegter Freiheit auszubreiten, bedeutete, mich erneut meinen Ängsten zu stellen, bis an

meine Schmerzgrenzen zu gehen und darüber hinaus. Mir wurde bewusst, dass ich die

Vergangenheit verstehen, meine Wurzeln und Herkunft kennen lernen musste, um die

Gegenwart zu begreifen.

Nur die Wahrheit rettet uns – die Nachgeborenen, und vielleicht tragen wir dazu bei, in

unserem Familiensystem etwas zu heilen und so ein Teil des kollektiven

Heilungsprozesses zu sein.

Die Arbeit an »German Angst« mit fünf anderen Frauen und die ungewöhnlichen

Anregungen der Choreogra n Karen, einzeln und als Gruppe De zite spielerisch zu

erkunden, war für mich etwas völlig Neues und anfangs eine große Herausforderung, mich

darauf einzulassen. Doch das schnelle Hineinwachsen in diese Gemeinschaft, wo jeder

seinen Anteil der Geschichte einbrachte, löste jegliche Bedenken auf.

In den Körper hinein zu spüren und zu erleben, wie fühlt es sich an, nur auf einem Bein zu

stehen, wenn das andere fehlt, wie die Balance nden?

Dazu passend Vaters Spruch: »Wer weiß, möglicherweise geben sie mir mein Bein im

Himmel zurück.« – ein Scherz sollte es sein. Mir fehlten die Worte, gleichzeitig habe ich

gelacht und geweint.

Das Gefangensein mit den Händen darzustellen und sich in langsamen Bewegungen

daraus zu befreien, einen Krüppel tänzerisch umzusetzen, erforderte enorme seelische

und körperliche Kraft.

Löcher?! Wie ein Loch darstellen, wie mit diesen Begriffen spielen: Brand-Loch? Von

Sprachlosigkeit betroffen sah ich Sprache in Löcher verschwinden.


Meine Aufgabe u. a. in »German Angst« war die Verkörperung einer Riesin, die mit ihren

Armen ein Loch bildet, in dem alle verschwinden. Wer oder was ist in meiner Familie sang- und klanglos verschwunden? Vom Bruder meines Vaters, der im Krieg geblieben ist, wurde nie gesprochen. Um ihn wieder in die Familie zu holen, legte ich für einige Zeit

symbolisch einen Stein auf meinen Hausaltar.

Während der intensiven Arbeit in der Familientherapie und im Brandloch-Projekt meldeten sich alte Wunden zurück, die längst vergessen schienen. Besonders schmerzvoll drängte sich mir die Erinnerung an jenen Englischlehrer auf, ein kleiner junger Mann in schwarzen


Lederhosen und einem Ring im Ohr, der keine Gelegenheit versäumte, mich wegen

meiner sprachlichen Einschränkung zu demütigen, was mir die Freude, eine fremde

Sprache zu erlernen, restlos verdarb.

Bis ins Heute hinein blockiert mich zuweilen die Hemmung zu sprechen. Manchmal

spreche ich zu schnell, so dass die Leute mich nicht verstehen. Vielleicht aus der

Befürchtung, dass mir ohnehin niemand zuhört, oder ein unbewusster Versuch, die

Gefühle hinter den Worten zu verstecken? Das Brandloch-Projekt ermutigte mich, meine

Scheu zu überwinden, und mit einem so persönlichen Anliegen vor ein Publikum zu treten. Noch bin ich bei mir nicht vollständig angekommen, aber ich bin unterwegs – dafür möchte ich allen Menschen und Begegnungen danken, die mir dazu verholfen haben, mich selbst und meine Geschichte aufzuspüren. Und über die Geschichte meiner Eltern lerne ich nun, den tiefen Schnitt in den Wurzeln meiner Ahnen zu begreifen, den das Dritte Reich und der Krieg verursacht hat. So nähere ich mich allmählich Antworten auf das Rätsel, warum ich mich seit jeher so heimatlos fühlte.



 

 
 
 

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